Ländervergleiche zu den Coronazahlen sind einerseits tückisch, weil dabei viele Dinge zu bedenken sind und Fehlschlüsse wie Pilze aus dem Boden sprießen, andererseits aufschlussreich, weil allein der Variationsreichtum der verschiedenen Entwicklungen auch wieder vor voreiligen Schlussfolgerungen warnt.
Hier im Blog wurde mehrfach die Situation in Großbritannien betrachtet, mit der frühen Impfkampagne und den frühen Lockerungen. Der steile Anstieg der Fallzahlen in Juni und Juli 2021 war Gegenstand hitziger Mediendebatten, ebenso der darauf folgende Rückgang der Fallzahlen sowie ihr Wiederanstieg. Schwere Zeiten für Auguren. In den letzten Wochen pendeln die Fallzahlen zwischen 30.000 und 40.000 täglich, drei bis viermal so viel als in Deutschland. In beiden Ländern verharren derzeit die Fallzahlen auf dem Niveau, das sich im Sommer eingependelt hat. Bei Our World in Data sieht das so aus:
Während die Fallzahlen Mitte Juli weit über den Spitzenwerten der ersten Welle im Frühjahr 2020 lagen und fast das Niveau der Frühjahrswelle 2021 erreicht haben, war das bei den Sterbefällen nicht mehr der Fall. Offensichtlich haben die Impfungen eine vergleichbar dramatische Entwicklung wie in den beiden Frühjahrswellen verhindert.
Gut 100 Menschen sterben derzeit täglich in Großbritannien an/mit Corona, bei uns sind es im Moment zwischen 50 und 60. Sind das nun viele Sterbefälle oder nicht? Gäbe es täglich 50 oder 60 Sterbefälle in Deutschland infolge von Glyphosat, würde vermutlich die Bayer-Zentrale in Leverkusen brennen, und gäbe es täglich so viele Verkehrstote, wären wir wieder bei den Spitzenwerten der Verkehrsunfallstatistik in den 1970er Jahren.
Einerseits sind es also vergleichsweise viele Sterbefälle. Andererseits entspricht die aktuelle Zahl der Sterbefälle auf ein Jahr kumuliert dem Niveau einer stärkeren Grippewelle oder einem Sechstel der vorzeitigen Sterbefälle infolge des Rauchens hierzulande. Also vergleichsweise wenig? Die Antworten beeinflussen auch, welches weitere Vorgehen Politik und Bevölkerung für zweckmäßig und geboten halten. Darüber, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, lässt sich bekanntlich erbittert streiten.
Welches Vorgehen in den zurückliegenden eineinhalb Jahren zweckmäßig und geboten gewesen wäre, wird auf absehbare Zeit ebenso strittig bleiben. Gestern ist in Großbritannien der Parlamentsbericht „Coronavirus: lessons learned to date“ erschienen. Er bewertet verschiedene Handlungsfelder und gibt dazu Empfehlungen für den Umgang mit künftigen Epidemien. Dabei wird auch im britischen Parlamentsbericht der internationale Vergleich als Hintergrundfolie herangezogen. Johnsons Politik Anfang 2020 stellt der Bericht ein vernichtendes Zeugnis aus: „in 2020 the UK did significantly worse in terms of covid deaths than many countries“, während z.B. die Impfkampagne positiv bewertet wird.
Ich bin gespannt auf eine vergleichbare deutsche parlamentarische Zwischenbilanz.
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