Am 4. Oktober 2021 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die in Bayern im Frühjahr 2020 angeordneten pauschalen Ausgangsbeschränkungen für unwirksam erklärt (VGH München, Beschluss v. 04.10.2021 – 20 N 20.767). Sie verstoßen gegen das Übermaßverbot.

Ich bin kein Jurist und kann mich daher nicht im Detail zu den juristischen Bausteinen des VGH-Beschlusses äußern. In den Medien gibt es dazu einige lesenswerte Kommentare, z.B. hat sich auf Verfassungsblog Felix Schmitt mit dem Beschluss und seiner juristischen Architektur beschäftigt.

Hier soll nur kurz darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Übermaßverbot eine Sperre gegen die Legitimierung von Maßnahmen allein aufgrund des Vorsorgeprinzips oder allein aufgrund ihrer Wirksamkeit darstellt. Maßnahmen müssen vielmehr immer verhältnismäßig sein, also einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet und erforderlich sein. Konkurrierende Rechte sollen nicht unnötig eingeschränkt werden, oder anders formuliert: Bayern ist nicht China. In China würde man vermutlich auch keine unwirksamen Maßnahmen anstreben, aber bei wirksamen Maßnahmen nicht weiter darauf achten, ob sie wirklich erforderlich sind oder mildere Mittel zur Verfügung stünden. Bei den pauschalen Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2020 in Bayern hat der VGH diese Erforderlichkeit nicht gesehen. Den legitimen Zweck und die Eignung der Maßnahmen hat er dagegen nicht infrage gestellt.

Der VGH hat die Revision zugelassen und die bayerische Staatsregierung prüft, ob sie in Revision geht. Als Revisionsgrund wird der Einwand, die Maßnahmen seien wirksam gewesen, siehe oben, nicht ausreichen. Dass sie zudem notwendig gewesen seien, wirft die Frage nach der spezifischen Evidenz der pauschalen Ausgangsbeschränkungen gegenüber milderen Maßnahmen wie bloßen Kontaktbeschränkungen auf. Der Bundesgesetzgeber hat das – zu einem späteren Zeitpunkt – in § 28 a (2) IfSG explizit noch einmal verankert: Ausgangsbeschränkungen darf es nur geben, „soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre“. Der Nachweis, mit bloßen Kontaktbeschränkungen gegenüber pauschalen Ausgangsbeschränkungen wäre eine „erhebliche Gefährdung“ der Infektionskontrolle verbunden gewesen, dürfte kaum zu erbringen sein. Hier würde das Präventionsparadoxon jedenfalls nicht weiterhelfen. Dafür könnte die Frage des Vertrauens des Staates in die Vernunft der Bürger/innen aufgeworfen werden.

Auch der Verweis darauf, man habe damals schnell entscheiden müssen und es habe weder eine Testinfrastruktur noch Impfungen gegeben, dürfte eine Revision nicht tragen: Die besondere Situation im Frühjahr 2020 hat der VGH anerkannt – verbindet damit aber keinen Freibrief für beliebig weitreichende Maßnahmen.

Was die vom VGH für unwirksam erklärten Vorschriften selbst angeht, ist das Ganze zwar nur noch von historischem Wert, die Vorschriften gelten schon lange nicht mehr. Aber die Grundsatzfrage, wie weit staatliches Handeln in einer Notlage in einem liberalen Rechtsstaat gehen darf oder soll, welche Verfahren welche Maßnahmen legitimieren und was derart weitreichende Maßnahmen “aus Vorsicht” über das Vertrauen des Staates in die Vernunft der Bürger/innen aussagen, bleibt aktuell. Insofern darf man gespannt sein, wie die bayerische Staatsregierung im Falle eines Falles eine Revision im Detail begründet und wie das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht dann ausgeht. Und man darf gespannt sein, wie die Querdenkerszene den VGH-Beschluss mit ihrem „Diktatur“-Narrativ in Einklang bringt. Der Beschluss beruht schließlich gerade auf dem Grundsatz, dass die Freiheitsrechte der Bürger/innen nicht wie in einer Diktatur einfach der Effizienz von Maßnahmen unterzuordnen sind.

Kommentare (13)

  1. #1 schorsch
    16. Oktober 2021

    Na, da bin ich aber mal gespannt, wie der VGH die ‘Eignung der Maßnahme”, in München Menschen einzusperren und ihnen hohe Geldbußen abzupressen, weil sie auf einer Parkbank sitzend ein Buch gelesen haben, begründet.

    Man könnte jetzt argumentieren, dass die bayerische Infektionsschutzmaßnahmeverordnung, um die es im Urteil geht, derartige Maßnahmen gar nicht explizit vorsieht. Aber diese Maßnahmen sind mit dieser Verordnung begründet und gewaltsam duchgesetzt worden.

  2. #2 hwied
    16. Oktober 2021

    Die bayerische Staatsregierung mit dem Sitz in München hat zur Kenntnis genommen, dass die Machtverhältnisse im Münchner Stadtrat pro Grüne und minus CSU, minus SPD verrutscht sind. Aus der TAZ :
    Entschieden lehnten sowohl Linkspartei, FDP als auch Grüne die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen ab.

    Die bayerische Staatsregierung wird also nicht auf Konfrontation zum VGH gehen. Ob Söder das als Schelte betrachten wird ? Vielleicht sind die Franken in München gar nicht so beliebt ?

  3. #3 rolak
    16. Oktober 2021

    gespannt sein, wie

    Um mal einen spekulativen Pfosten zu setzen: gar nicht. Bzw: durch Ignorieren. Alles Faktische gegen das eigene Weltbild hat Fake zu sein.

    Wetten werden noch angenommen 😉

  4. #4 Joseph Kuhn
    16. Oktober 2021

    @ schorsch:

    “da bin ich aber mal gespannt, wie der VGH die ‘Eignung der Maßnahme” … begründet.”

    Die Spannung lässt sich durch einen Blick in die Begründung des Beschlusses abbauen:

    “76 (aa) Die Ausgangsbeschränkung war grundsätzlich geeignet, den gesetzlichen Zweck der Maßnahme zu erfüllen und die Übertragung des Coronavirus jedenfalls zu hemmen (§ 1 Abs. 1 Var. 3 IfSG). Durch die Ausgangsbeschränkung kommt es zur Kontaktreduzierung im öffentlichen und privaten Raum.”

    Eignung und Notwendigkeit sowie Angemessenheit sind nicht dasselbe. Auch das Anketten zuhause wäre als Mittel gegen die die Verbreitung der Infektion sicher geeignet, weil kontaktreduzierend, aber ersichtlich weder notwendig noch angemessen.

    @ rolak:

    “Um mal einen spekulativen Pfosten zu setzen: gar nicht. … Wetten werden noch angenommen”

    Werden Wetten immer noch angenommen?

    @hwied:

    Was der Münchner Stadtrat mit der Sache zu tun hat, muss man vermutlich nicht verstehen. Sie sollten Ihrem Drang, zu jedem Thema irgendetwas zu sagen, gelegentlich widerstehen.

  5. #5 rolak
    16. Oktober 2021

    immer noch?

    Annahmeschluss bereits nach einer Viertelstunde wäre ärmlich. Mehr als wetten im Sinne von ‘unter denkbaren Möglichkeiten auswürfeln’ bleibt (mir) imho mangels tieferer Einsicht in dieses Denkmuster eh nicht.
    Geht ja sowieso nur darum, später zu schauen, welche Prognose am nächsten dran war.

    • #6 Joseph Kuhn
      16. Oktober 2021

      … Annahmeschluss nach 76 (aa) wäre durchaus legitim. 😉

  6. #7 hwied
    16. Oktober 2021

    Joseph Kuhn
    Die räumliche Nähe des Münchner Stadtrates ist hier ausschlaggebend. Auch ein Söder kann sich der Stimmung der Bevölkerung nicht entziehen.
    Und wenn Söder die Zeichen der Zeit richtig deutet, dann wird er jetzt in Deckung gehen und nicht mehr groß posaunen, die Linken müssen in Schach gehalten werden.

    • #8 Joseph Kuhn
      16. Oktober 2021

      @ hwied:

      Ich bin froh, dass ich nicht mit Ihrem Hirn denken muss. Sie haben es wirklich nicht einfach. Bitte lassen Sie sich mit Ihren nächsten Kommentar Zeit, bis ein ganzer Gedanke herangereift ist. Danke.

  7. #9 hwied
    16. Oktober 2021

    XXX

    [Edit: Kommentar gelöscht. Gehen Sie mal spazieren. JK]

  8. #10 PDP10
    16. Oktober 2021

    Manche Gehirne funktionieren wie ein Schlussverkauf: Alles muss raus.

  9. #11 hwied
    17. Oktober 2021

    Nachtrag zu Söder,
    ich finde Söders Kurs bezüglich Corona richtig, auch wenn er politisch dafür Schläge bekommt und auch deswegen die Wahl verloren hat.

  10. #12 DH
    18. Oktober 2021

    ““76 (aa) Die Ausgangsbeschränkung war grundsätzlich geeignet, den gesetzlichen Zweck der Maßnahme zu erfüllen und die Übertragung des Coronavirus jedenfalls zu hemmen (§ 1 Abs. 1 Var. 3 IfSG). Durch die Ausgangsbeschränkung kommt es zur Kontaktreduzierung im öffentlichen und privaten Raum.”

    Könnte auch an Wochenenden zu einer Verdichtung von Kontakten im Privaten geführt haben, sowie zu einer häufigen zeitlichen Verlängerung, bzw. Übernachtung bei Zusammenkünften, die sonst früher beendet worden wären und auch später begonnen.
    Außerdem ist der Nahverkehr abends deutlich leerer.
    Dennoch ein Sieg für den Rechtsstaat, daß Verhältnismäßigkeit nicht nebensächlich ist, wird durch dieses Urteil klar gestellt.
    Historisch ist es, aber nicht nur. Für zukünftige Maßnahmen spielt das eine Rolle, jedenfalls bei vergleichbarer Gefahr.

  11. #13 Michael Minski
    23. Oktober 2021

    Guter Beitrag