Die moderne Medizin hat ein Janusgesicht: Einerseits hat sie uns lebensrettende Behandlungsmöglichkeiten eröffnet, die vor 100 Jahren noch als Science Fiction gegolten hätten – von den Antibiotika bis zur Nierentransplantation, andererseits geht der Medizinbetrieb in den reichen Ländern mit einem Überangebot unnötiger und nicht selten auch schädlicher Behandlungen einher, von denen nur der medizinisch-industrielle Komplex profitiert, nicht aber der kranke Mensch.

„Choosing whisely“ heißt eine internationale Initiative, die dazu ermutigen will, unnötige oder schädliche Behandlungen zu vermeiden. Eine wichtige Hilfestellung dabei ist die Wissenschaft, die evidenzbasierte Medizin, eine andere die Förderung von „Health Literacy“, von Gesundheitskompetenz. Beides zusammen ist für eine „informierte Entscheidung“ nötig.

Werner Bartens, Medizinredakteur der Süddeutschen Zeitung, setzt sich seit vielen Jahren für mehr vernünftiges Abwägen in der Gesundheitsversorgung ein und hat darüber inzwischen viele Bücher geschrieben, die im besten Sinne als gesundheitliche Aufklärung gelten können. Jetzt hat er wieder eins veröffentlicht, unter dem Titel „Ist das Medizin oder kann das weg?“ Er bespricht darin mit journalistischen Stilmitteln – von eigenen Erlebnissen ausgehend, wichtige Studien referierend, dazu kommentierende O-Töne von Wissenschaftler/innen – eine Reihe von Fallbeispielen. Der Rest wieder in sieben Zeilen.

Kommentare (20)

  1. #1 Herr Senf
    30. Oktober 2021

    auf den Zug “medizinisch-industrielle Komplex” sind auch schon Böse aufgesprungen
    wie rt.de und Rachel Marsden

    Ein ganzer medizinisch-industrieller Komplex entsteht jetzt rund um die QR-Code-Sicherheit, … mit den de facto obligatorischen Big-Pharma-Impfungen, …
    wobei Kellner … die Kontrolle über die Einhaltung der Impfpflicht übernehmen.

  2. #2 rolak
    30. Oktober 2021

    die QR-Code-Sicherheit

    Also so ganz ohne sind die nicht

    Zugegeben, absichtlich fehlverstanden, doch mich verblüffte vorhin beim schnellen Nachschlagen, wie lange mir die offizielle Verwendung entgangen war, hatte ich beim drüber Stolpern immer als scherzhaftes Zitat ‘der Anderen’ aufgefasst.

  3. #3 Staphylococcus rex
    30. Oktober 2021

    Wenn wir über Fehl- und Überversorgung reden, lassen sich die meisten Einzelbeispiele zwei Gruppen zuordnen und diese beiden Gruppen haben die Gemeinsamkeit, dass die Therapieziele nicht ausreichend kommuniziert wurden.

    Die erste Gruppe sind zahlreiche chronische Krankheitsbilder, wo die chirurgische Intervention eine schnelle Abhilfe verspricht, die sie nur im Einzelfall halten kann. Im Einzelfall kann die chirurgische Intervention die Krankheit aber auch verschlimmern. Hier kommen mehrere Faktoren zusammen, die sich gegenseitig verstärken: der Leidensdruck chronischer Patienten, die Selbstüberschätzung der Operateure, die oft nur die Kurzzeitergebnisse sehen und die finanziellen Interessen des Trägers der Einrichtung. Deshalb steht diese Form der Überversorgung oft im Focus. Die beste Lösung ist eine verpflichtende Zweitmeinung eines unabhängigen Spezialisten zur Indikationsstellung.

    Die zweite Gruppe sind die hochbetagten Patienten, die in ihrem letzten Lebensjahr oft zwischen Pflege und Krankenhaus hin- und herpendeln. Diese Patienten haben chronische Krankheiten, die bei unzureichender Pflege dekompensieren und bei intensivierter Pflege sich wieder bessern. In dem bereits erwähnten „House of god“ gibt es den bösen Spruch „Gomer never die“, der sich aus therapeutischer Sicht so interpretieren lässt, dass diese Patienten weniger die medizinische Intervention sondern vielmehr die Pflege benötigen. Auch dieses Problem wäre lösbar, wenn Pflegeheime regelmäßig durch niedergelassene Ärzte visitiert würden (mit der aktuellen Bezahlung von Hausbesuchen ist dies nicht machbar), um eine dekompensierte Krankheit früher zu erkennen und ggf. vor Ort zu behandeln. Hier sollte auch viel mehr Wert auf die Patientenverfügung gelegt werden. Ein Krankenhausaufenthalt ist traumatisierend für hochbetagte Menschen, der Nutzen sollte sich weniger an der gewonnen Lebenszeit sondern vielmehr an der gewonnenen Lebensqualität orientieren. Wenn hier eine klare Ansage seitens der Patientenverfügung fehlt, wird im Zweifelsfall aus Angst vor unterlassener Hilfeleistung zu viel getan.

    Die moderne Medizin verhindert viele akute Todesereignisse im Alter von 60 oder 70 Jahren. Die Konsequenz ist die, dass ab 80 oder 90 einzelne Organe ihre Funktion schrittweise reduzieren und das Leben nur noch mit externer Intervention erhalten werden kann. Etwas drastisch kann man es auch so formulieren: Das Sterben dauert dann nicht mehr wenige Minuten oder Tage, sondern kann sich über mehrere Monate oder Jahre hinziehen. Das ist ethisch ein ganz heißes Eisen und es gibt hier keine einfache Regel: den Moment zu erkennen, wenn es für den alten Menschen besser ist, dem natürlichen Krankheitsverlauf und damit dem Sterben den natürlichen Lauf zu lassen.

  4. #4 rolak
    30. Oktober 2021

    Oh shit – und sorry

    die offizielle Verwendung

    dahinter fehlt das notwendige »von ‘medizinisch-industrieller Komplex’«.

  5. #5 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/
    31. Oktober 2021

    Der medizinisch-industrielle Komplex ist doch eine Verschwörungstheorie, oder nicht?

  6. #6 rolak
    31. Oktober 2021

    Verschwörungstheorie, oder?

    Im Prinzip ja, aber eben nicht nur.
    Durchaus üblicher Gebrauch, sowohl rein kategorisierend als eben auch abwertend seit den 70ern (en gros, ein Detail).

    Nüchtern gehts wie bei demselben Akronym mit der anderen Langform wohl nur um die Benennung eines schier undurchdringlichen Konglomerates aus Politik, Produktion und Vertrieb mit einer teils überwältigenden, von einzelnen Begehrlichkeiten angefeuerten Dynamik.
    Erklärungsbesoffen wirds als konzertierte Aktion und sinistre Agenda gesehen.

  7. #7 hto
    Gemeinschaftseigentum
    31. Oktober 2021

    “medizinisch-industrielle Komplex” ist eine heuchlerisch-verlogene Bezeichnung die der konfusionierenden Schuld- und Sündenbocksuche entspricht.

    Wenn man es im konkret-ursächlichen Sinne der wettbewerbsbedingten Symptomatik und des daraus resultierenden “gesunden” Konkurrenzdenken bezeichnet, dann muss es “medizinisch-kaufmännischen Komplex” lauten.

    • #8 Joseph Kuhn
      31. Oktober 2021

      @ hto:

      Sie sollten mal mit einem guten Therapeuten über Ihre medizinisch-psychischen Komplexe sprechen, statt immer wieder wie eine copy&paste-Maschine in Endlosschleife in “konfusionierender Schuld- und Sündenbocksuche” den Rest der Menschheit für “heuchlerisch-verlogen” zu erklären. Ihre zwanghaften Perseverationen sind argumentativ nicht konkurrenzfähig. Im Wettbewerb der Gedanken zählt das bessere Denken, nicht die Hartnäckigkeit bei der Wiederholung des Gedankenlosen.

  8. #9 RPGNo1
    31. Oktober 2021

    Hm, das Buch werde ich mir vormerken. Könnte eine gute Lektüre für die Weihnachtstage bzw. den nächsten Urlaub sein.

  9. #10 Daniel
    1. November 2021

    Mein Hauptproblem “medizinisch-industrielle Komplex” ist das es den Anschein einer organisierten Verschwörung erzeugt, die weite Teile des Medizinischen Personals, Gesundheitspolitiker, sowie der Arzneimittel- und Medizinprodukthersteller beinhalt. Dieses Narrativ mag ja in ganz spezifischen Einzelfällen zutreffen, vielleicht auch noch stärker im noch kapitalistischeren USA Gesundheitssystem, der allgemeine und generalisierte Gebrauch des Ausdruckes, einer der suggeriert es gäbe eine einheitliche alles umfassende Verschwörung, füttert aber eben genau die Argumentation der Alternativquacksalber. Das ist ganz unabhängig davon wie der Ausdruck enstanden ist und wie er historisch enstanden ist.

    • #11 Joseph Kuhn
      1. November 2021

      @ Daniel:

      Ich fürchte, heutzutage werden zu schnell überall Verschwörungen und Verschwörungstheorien gesehen. Der Begriff verweist zunächst auf ein eng verbundenes System zwischen Versorgern und Industrie und das bezeichnet er m.E. gut, mit dem nötigen kritischen Beigeschmack, wenn man z.B. an Anwendungsbeobachtungen im Kontext von Markteinführungsstrategien oder die ökonomische Eigendynamik von teurer Medizintechnik denkt.

  10. #12 Folke Kelm
    Schweden, spät, dunkel, viel zu warm.
    1. November 2021

    #8
    Eine lesenswerte Replik. Chapeau
    Ich pflege smileys zu vermeiden, ich mag die nicht, zumal sie oft von Personen benutzt werden die ich einfach nicht ernst nehmen kann. Hier denke ich ist aber eine Ausnahme angebracht

  11. #13 Folke Kelm
    Immer noch da.
    1. November 2021

    Und wo ist jetzt der smiley hin?

  12. #14 PDP10
    1. November 2021

    @Folke:

    Und wo ist jetzt der smiley hin?

    Den hat hto gefressen. Die Weltrevolution ist nunmal eine ernste Angelegenheit!

  13. #15 PDP10
    1. November 2021

    Der Begriff verweist zunächst auf ein eng verbundenes System zwischen Versorgern und Industrie

    Man kann sich das ganz unverschwörungstheoretisch an der Pflegeindustrie (man muss das wohl inzwischen so bezeichnen) ansehen.

    Höhere Pflegestufe bedeutet höhere Einnahmen für die Betreiber. Bei teils fast gleichen Ausgaben für die Pfleger/innen. Wer hätte also ein Interesse daran zu Pflegende “gesund” zu pflegen, dh. ihnen durch allerlei Maßnahmen zu ermöglichen wieder selbständiger zu werden?
    Genau: Niemand.

    Das ist keine “Verschwörung” sondern ein massiver Konstruktionsfehler, der falsche ökonomische Anreize setzt.

  14. #16 Adent
    2. November 2021

    @Joseph
    Etwas OT, aber deine Replik in #8 passt bei ein zwei geänderten Wörtern auch zu 100% auf den Web-laberbaeren, der kann auch nur in Endlosschleife das Sinnlose wiederholen.
    Es ist scho nerstaunlich das dies links wie rechts bei “Innovativdenkern” (habe ich mir eben ausgedacht und in Anführungszeichen gesetzt weil ja eben so gar nicht innovativ oder alternativ, um noch auf Moreno zu zielen) anscheinend Mode ist, a la ich muss nur oft genug falsches wiederholen, dann glauben es schon ein paar Dumme.
    Das Ganze in einem Blog abzuseiern wo der eine oder andere nicht so Dumme mitliest ist allerdings ein wenig dämlich, aber was solls.

    • #17 Joseph Kuhn
      2. November 2021

      @ Adent:

      Ja, hto, der Webbär, der Beobachter, hwied in seinen diversen Erscheinungsformen, Markweger oder Moreno sind schon eine illustre Runde. Den Scienceblogs seit Jahren treu verbunden, immer vom Inhalt provoziert und immer am Inhalt vorbei mit selbstexpressiven Troll-Kommentaren reagierend. Kommentarpädagogisch aber bewältigbar.

      Mal eine provozierende These meinerseits: In gewisser Weise zeigen die Reaktionen auf diese Leute aber auch, dass die Lust am Streit mit ihnen oft die Diskussion zum Thema verdrängt. Vielleicht spiegelt das somit auch identitätspolitische Bedürfnisse insgesamt wider?

      Auch in diesem Thread hat sich beispielsweise noch niemand dazu geäußert, warum die Korrelationen zwischen Impfungen und Inzidenzen bei Subramanian/Kumar und Robra gegenläufig sind. Sehr interessant wäre, ob das zeitlich stabil ist oder nicht und was sich wiederum daraus ableiten lässt. Oder wie das speziell für die Älteren aussieht.

      Edit: Ups, falscher Thread, was die Diskussion Subramanian/Kumar/Robra angeht.

  15. #18 hto
    Gemeinschaftseigentum
    2. November 2021

    “Eine Korrelation beschreibt eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Merkmalen, Zuständen oder Funktionen. Die Beziehung muss keine kausale Beziehung sein: manche Elemente eines Systems beeinflussen sich gegenseitig nicht, oder es besteht eine stochastische, also vom Zufall beeinflusste Beziehung zwischen ihnen.” Wikipedia

    Alles dazu ist doch dämlich, oder nicht? 🙂

  16. #19 schorsch
    2. November 2021

    Ich habe den leisen Verdacht, dass sich in diesem Thread deshalb niemand zu Subramanian/Kumar und Robra äusserst, weil diese Thema nicht dieses, sondern des Threads nebenan sind (SCNR).

    Aber ist das denn überhaupt richtig, dass die ‘Korrelationen […] gegenläufig sind’? Subramanian/Kumar drücken sich deutlich anders aus, nämlich ‘Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination’ – es gibt keinen statistisch erkennbaren Zusammenhang zwischen Impfungen und Inzidenzen.

    Die Frage, warum ein solcher erwartbarer Zusammenhang anhand der Daten nicht erkennbar ist, ist in der Tat interessant. Wenn ich das richtig sehe, haben Subramanian/Kumar sich auf Daten gestützt, welche am 3. Sept. verfügbar waren und zu diesem Zeitpunkt nicht älter als 3 Tage waren. Und haben auf diese Weise z. B. genau die eine Woche, sogar den einen Tag getroffen, als in Israel eine extreme und einmalige Spitze in den Inzidenzen auftrat.

    Anders gesagt – würde man Subramanian/Kumar über einen längeren Zeitraum mitteln, könnte die Verteilung schon sehr, sehr deutlich anders aussehen.

    • #20 Joseph Kuhn
      2. November 2021

      @ schorsch:

      Zweimal danke, zum Hinweis auf den falschen Thread und auch für den inhaltlichen Kommentar.