In der öffentlichen Diskussion ist derzeit viel von „Spaltung“ die Rede. Das Objekt der Spaltung ist bei diesen Aussagen in der Regel die Gesellschaft. Wer das Subjekt ist, ist weniger klar. Spaltet sich die Gesellschaft selbst? Spalten dunkle Mächte die Gesellschaft? Spalten abgespaltete Teile den Rest?
Wie auch immer. Interessant ist aber auch das Objekt. Die „Gesellschaft“ ist ein Vergemeinschaftungsbegriff unter vielen und seine Spezifik wird deutlicher, wenn man die Konkurrenten anschaut. Da wären z.B. die Gemeinde, die Gemeinschaft, das Gemeinwohl, der Staat, das System, die Kirche, die Klasse, das Milieu, die Nation oder die Rasse.
All diese Begriffe sind theoretische Begriffe. Sie bezeichnen nicht einfach einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand wie z.B. einen Stuhl. Man muss ihnen Bedeutung geben. Man kann natürlich auch infrage stellen, ob sie überhaupt etwas Reales repräsentieren. Bis heute bekannt ist dieser Satz Thatchers:
„And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families.“
Sie baut hier einen Gegensatz zwischen scheinbar natürlichen Einheiten und einem künstlichen, nicht wirklich relevanten Konstrukt auf. Interessanterweise sind von ihr zum Begriff der Nation andere Sätze überliefert, etwa der:
„If our people feel that they are part of a great nation and they are prepared to will the means to keep it great, then a great nation we shall be, and shall remain.“
Könnte auch von Brexit-Boris sein. Oder von Trump, oder Orban. Ob sie die „Nation“ als natürliche Einheit sah, ähnlich dem Individuum oder der Familie? Oder ob sie die „Nation“ bewusst als Begriff verwendet hat, der Gemeinschaft und Ausgrenzung verbindet?
Auch Thatchers „there ist no such thing as society“ ist ein spaltender Satz. Er negiert gesellschaftliche Verantwortung stellt individuelle Eigenverantwortung als einzig gültige Form der Verantwortungsansprache dar. Und der Appell an die Eigenverantwortung richtet sich, wie man weiß, nie an die oberen Schichten und zur Verehrung der „Nation“ passt das im Grunde auch alles nicht.
Auch bei den anderen Begriffen kann man aus ihrem Verhältnis dazu, wie sie vergemeinschaften und wen sie ausgrenzen, einiges lernen. Die „Klasse“ ist dafür geradezu ein Lehrstück. Wer denkt dabei nicht an den „Klassenkampf“? Zugleich sollte dieser Begriff den Menschen, die durch ihr Schicksal als „Lohnarbeiter“ verbunden waren, aber keine handlungsfähige Gemeinschaft bildeten, eine Identität geben. Und weiter, in einer dialektischen Synthese war bei Marx am Ende des Klassenkampfes doch wieder eine größere Gemeinschaft gedacht: der Kommunismus. Weniger dialektisch, eher als starres Nebeneinander, sollen vielleicht Konstrukte wie das „Europa der Nationen“ ebenfalls einen Ausgleich zwischen identitär gedachten Gemeinschaften schaffen. Die „Rasse“ kennt nicht einmal diese Form der Vermittlung.
Zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, oder der Gesellschaft, gibt es analoge Vorstellungen. Die positive Interpretation des Egoismus, in Abkehr von alten kirchlichen Todsünden wie Avaritia, Luxuria oder Gula, steht Pate an der Wiege des Liberalismus, beginnend mit Mandevilles „Private vices, public benefits“ und Smith’s „unsichtbarer Hand“.
Aber die „unsichtbare Hand“ ist, wie es Joseph Vogl treffend formuliert hat, nur ein „Gespenst des Kapitals“. Dabei gibt es doch sichtbare, unübersehbare Verbindungen: Der Mensch ist von Beginn an – phylogenetisch, ontogenetisch, biografisch – ein soziales Wesen. Er wächst vom Tag seiner Geburt an in seine Kultur hinein, in eine Gesellschaft. Es gibt keine menschliche Gemeinschaft der Kaspar Hausers. There is no such thing as individual man or woman. Das ist nur eine vulgärlibertäre Idee. Auch die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde ist nicht vom Individuum allein her zu denken. Sie ist ein soziales Verhältnis, so wie die ganze moderne Individualisierung nur als Gesellschaftsform möglich ist, als gesellschaftlich möglich gemachte Freisetzung aus den früher stahlharten traditionalen Rollen.
Vielleicht muss man die derzeit vielbeklagten Spaltungen der Gesellschaft auch weniger als Endpunkt sehen, sondern als dialektischen Durchgang? Hoffentlich nicht zurück zu Nation und Rasse, sondern hin zu mehr Menschheit. Sonst wird das auch mit dem Kampf gegen den Klimawandel nichts.
In diesem Sinne: Auf ein gutes neues Jahr 2022!
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Zum Weiterlesen:
• Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/New York 1985.
• Jürgen Ritsert: Gesellschaft. Einführung in den Grundbegriff der Soziologie. Frankfurt/New York 1988.
• Bettina Schmidt: Eigenverantwortung haben immer die Anderen. Der Verantwortungsdiskurs im Gesundheitswesen. Bern 2007.
• Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007.
• Sylvia Nasar: Markt und Moral. Die großen Ökonomen und ihre Ideen. München 2012.
• Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. Berlin 2019.
• Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hamburg 2019.
• Michael J. Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Frankfurt 2020.
• Und viele andere interessante Bücher, über die man nichts in querdenkenden Foren erfährt, die aber beim Selberdenken in guter Gesellschaft helfen.
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