Zum folgenden Gastbeitrag muss ich eine längere Vorbemerkung machen. Seit mehr als 30 Jahren wird in Deutschland wieder intensiv über „Public Health“ diskutiert, d.h. über die durch die Nazis zerstörte Sozialmedizin. Seither wurden Lehrstühle eingerichtet, viele gute Forschungsvorhaben auf den Weg gebracht, und auf dem Papier auch viele kluge Gedanken formuliert. Im Laufe der Jahre hat sich rund um das Thema Public Health eine kleine akademische Elite gebildet, die international durchaus wettbewerbsfähig ist. Den letzten Halbsatz darf man als Erfolgsnachricht, aber auch ein bisschen als Ironie lesen. Warum, wird gleich klarer.

In der Praxis sind die Public Health-Strukturen nämlich nicht oder bestenfalls in besonderen Biotopen nachgewachsen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst wurde so heruntergewirtschaftet, dass er schon lange vor Corona seine Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte, den Arbeitsschutzbehörden wurde 2015 sogar von der Bundesregierung höchstselbst attestiert, dass eine wirksame Überwachung infolge von Personalmangel gefährdet ist, die Lebensmittelsicherheit hat verlässlich Jahr für Jahr durch Skandale auf sich aufmerksam gemacht und auch die Zivilgesellschaft insgesamt hat in manchen Bereichen kaum mehr Sozialkapital, z.B. was nachbarschaftliche Hilfen im ländlichen Raum angeht. Wer heute in einem kleinen Dorf alt ist, ist vor allem einsam und hilflos. Selbst die freiwillige Feuerwehr findet mancherorts keinen Nachwuchs mehr.

Der seit Reagan und Thatcher hegemonial gewordene Neoliberalismus, die Privatisierung wichtiger Bereiche der Daseinsvorsorge, die Transformation sozialer Unterstützungsstrukturen in marktgängige Dienstleistungen und die Apotheose des nur sich selbst verantwortlichen Individuums haben unübersehbare Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Das zeigt sich jetzt auch bei der Betreuung von Flüchtlingen. Public Health ist die „gemeinsame Sorge um die Gesundheit aller“ (Sigrid Stöckel). Dazu gehört z.B., Geflüchtete so zu beraten, dass sie sich nicht in der Fremde allein und verlassen fühlen, dass sie wissen, wohin sie sich wenden können und was in den nächsten Tagen mit ihnen geschieht. Als habe es 2015 nicht schon einmal eine Flüchtlingswelle gegeben, funktioniert das mancherorts aber wieder nicht. Es ist m.E. derzeit nicht prioritär, wie man prüfen kann, ob Impfnachweise Geflüchteter gefälscht sind oder wie man Menschen aus der Ukraine möglichst schnell gegen Windpocken impft. Worauf es stattdessen ankommt, macht ein Erfahrungsbericht deutlich, den Dr. Veronika Reisig aufgeschrieben hat. Sie ist eine ausgewiesene Public Health-Expertin, die sich privat für Geflüchtete engagiert.

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Hilfe. Ein kleiner Erfahrungsbericht
Ein Gastbeitrag von Dr. Veronika Reisig

Helfen wollen im Augenblick (fast) alle. Auch ich. Daher habe ich auf der Webseite unseres Landkreises unter der Rubrik „Ukrainehilfe“ Häkchen gesetzt bei Fahrdiensten und Begleitung, z.B. bei Arztbesuchen, Einkäufen, Behördenkontakten etc. Vor ein paar Tagen war es dann soweit, mein erster Einsatz. Am frühen Abend zuvor ein Anruf aus dem Landratsamt, ob ich am nächsten Morgen ein ukrainisches Ehepaar von der Notunterkunft in der Turnhalle unserer Kreisstadt in eine Unterkunft in der ländlichen Peripherie des Landkreises fahren könnte. Auf mein „ja, klar“ folgten zwei weitere Anrufe freundlich bemühter Mitarbeiter des Landratsamts, jeweils mit kleinen Ergänzungen. Am nächsten Morgen dann jedoch die Nachricht, der Transport sei nun doch nicht nötig, das Ehepaar anderweitig weiter gekommen. Ich hatte jedoch nicht lange Zeit enttäuscht zu sein, denn schon wieder klingelte das Telefon, jetzt doch, nun allerdings ein alleinstehender Herr.

Die Turnhalle voll gestellt mit Feldbetten, gut bewacht von viel Security, „mein“ Flüchtling wurde mir gegen Unterschrift übergeben. Schon beim Gang zu meinem Auto wurde klar, dass Herr H. zwar nicht alt, aber sehr krank und körperlich nicht belastbar war. Kaum überraschend daher die Fragenwelle, die mir während der Autofahrt per Übersetzungsapp entgegen schwappte: „Können Sie mir mit dem Papierkram behilflich sein? Wo bekomme ich einen Schwerbehindertenausweis? Wie komme ich an eine Schwerbehindertenrente? Können Sie mir Geld geben?“ Beim Anblick der ländlichen Gegend folgte „Wie kann ich in die Stadt fahren? Nennen Sie mir bitte einen Bus, der vor dem Haus hält. Welche Linie ist das und zu welchen Zeiten fährt der Bus?“ Wirklich erschüttert hat mich die Frage „Ich nehme an, Sie nehmen mich mit zu sich nach Hause? Wie lange kann ich da bleiben? Und darf ich raus zum Spazierengehen?“ Herr H. hatte sich in vollstem Vertrauen in ich weiß nicht was zu einer Wildfremden ins Auto gesetzt und wusste NICHTS über das Ziel unserer Fahrt, die Art und weiteren Umstände seiner Unterbringung dort. Er war zwar vor „drei Tagen mit Moderna geschossen“ worden wie mir seine Übersetzungsapp mitteilte, hatte aber allem Anschein nach in dieser Zeit keinerlei Beratung erhalten. Scheinbar hatte sich niemand bemüht herauszufinden, ob die neue Unterbringung geeignet war, und niemand hatte Herrn H. darüber informiert. Sicher war jedenfalls, dass ich viele seiner Fragen nur mit „keine Ahnung“ beantworten konnte, dass die Flüchtlingsberatungsstelle in der Kreisstadt ist, der ÖPNV sicher nicht so ausgebaut, dass stündlich ein Bus fährt und schon erst Recht nicht ab der Haustür. Alles andere würde für ihn mit seinen körperlichen Einschränkungen jedoch sehr schwer machbar sein. Als am Ziel angekommen auch der Besitzer des Hotels, der für eine Zeit von 10-12 Wochen ein Zimmer für Herrn H. zur Verfügung stellte, nichts zu den weiteren Umständen der Unterbringung wusste (Verpflegung nötig?) und außerdem ein fittes Ehepaar erwartet hatte, das ggf. im Hotelbetrieb mithelfen könnte, hatte ich endgültig das Gefühl, hier niemandem eine Hilfe, sondern eher einen Bärendienst erwiesen zu haben.

Zusammenfassend habe ich auf allen Seiten viel guten Willen und Bemühen erlebt, was die Sache jedoch noch nicht unbedingt gut macht. Sicher läuft es anderswo anders und vielleicht auch besser, dennoch hier spontan drei Anregungen zur Verbesserung:

• In der Aufnahmestelle bzw. der ersten von öffentlicher Hand zur Verfügung gestellten Unterkunft ist ein aufsuchendes Beratungsangebot für alle nötig, die dies wollen und brauchen. Coronatest und Impfung waren zwar vorbildlich durchgeführt worden, ein umfassender Hilfsansatz erschöpft sich jedoch damit nicht.
• Hilfreich wäre des Weiteren eine Art „Clearing Stelle“ für die Weitervermittlung von Geflüchteten an Folgeunterkünfte, mit dem Ziel einer besseren Passung der neuen Wohnsituation und den Bedürfnissen der Geflüchteten.
• Bitte die Menschen informieren, wo die Reise hingeht, ehe sie an Helfer zur Fahrt in die neue Unterkunft übergeben werden. Ich werde künftig niemanden mehr fahren, wenn nicht zumindest das sichergestellt ist.

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Zum Weiterlesen:

• Bredow B et al.: „Vertrieben und verletzlich“. Artikel im SPIEGEL 13/2022 über die Gefahren, denen geflüchtete Frauen derzeit auf den Bahnhöfen, in Unterkünften und andernorts ausgesetzt sind.
• Wandschneider L et al.: The Role of Europe’s Schools of Public Health in Times of War: ASPHER Statement on the War Against Ukraine. Public Health Rev, 16 March 2022.
• Zukunftsforum Public Health: Eckpunkte einer Public Health-Strategie für Deutschland.
• Blogbeitrag „Public Health: Entwicklungsland Deutschland“.

Kommentare (8)

  1. #1 Alisier
    27. März 2022

    Herzlichen Dank für diesen Bericht, Frau Dr. Reisig!
    Zugestehen möchte ich den Organisatoren, dass sie verdammt schnell reagieren mussten, und vieles in der kurzen Zeit einfach nicht planbar war. Ist hier nicht anders.
    Trotzdem hat Joseph Kuhn natürlich völlig Recht das Kaputtsparen als eine der Ursachen anzuprangern.

  2. #2 Beobachter
    27. März 2022

    die daseinsvorsorge bleibt zunehmend auf der strecke – z. b. auch bzgl. feuerwehr – wie im einleitenden beitrag oben angesprochen – und notärztlicher versorgung.
    dazu passend der aktuelle blogartikel von stefan sell

    https://aktuelle-sozialpolitik.de/2022/03/26/stell-dir-vor-keiner-kommt/

    überschrift

    Fragile Selbstverständlichkeiten oder: Stell Dir vor es brennt, aber keiner kann kommen. Und der Notarzt braucht auch immer länger, wenn es denn noch einen gibt

    zu # 1

    aber man könnte erwarten, dass man aus der flüchtlingskrise 2015 zumindest insofern gelernt hat, auf grundsätzlich wichtiges zu achten und mit den betroffenen leuten hier vor ort zu reden, statt an irgendwelchen schreibtischen über sie.

    anm –
    kann derzeit nur mit rechts tippen, sorry …

  3. #3 Staphylococcus rex
    28. März 2022

    Berichte wie hier von Frau Reisig sind wichtig, um daraus zu lernen. Eine derartige Flüchtlingswelle ist eine enorme logistische Herausforderung. Das aufsuchende Beratungsangebot und die Clearing Stelle könnten ggf. durch eine Art von vorgeschalteter Triage ergänzt werden. Mit Hilfe eines Fragebogens könnten z.B. wesentliche Fähigkeiten und Einschränkungen abgefragt werden. Sozialarbeiter und Personen mit Sprachkenntnissen sind ein Flaschenhals, mit einer derartigen Triage sollte schnell erkennbar sein, welche Flüchtlinge einen erhöhten Betreuungsbedarf haben und welche weniger Betreuung benötigen und z.B. auch auf die Fläche verteilt werden können.

    Wir sind gerade auf dem Höhepunkt der Omikron-Welle und Sozialberufe im Allgemeinen und Gesundheitsämter im Besonderen sind schon seit Wochen an der Belastungsgrenze. Es geht im Umgang mit Flüchtlingen nicht darum alles perfekt zu machen, sondern darum schnellstmöglich voneinder zu lernen, um als selbstlernendes System mit den vorhandenen Ressourcen eine anständige Lenkung aufzubauen.

    Eine große Unbekannte ist für mich die Dolmetscherbetreuung, Übersetzungsangebote auf Russisch dürften häufiger verfügbar sein als auf Ukrainisch, ich habe aber keine Kennung, wie ukrainische Flüchtlinge auf russischsprachige Dolmetscherangebote reagieren.

  4. #4 Staphylococcus rex
    28. März 2022

    Kleiner Nachtrag: Weil behördliche Unterstützung Mangelware ist, sind viele Flüchtlinge auf einen Lotsen oder einen Paten mit Kenntnissen vor Ort angewiesen. Dies klang auch aus dem Bericht von Frau Reisig heraus. Der aktuelle Beitrag von Joseph Kuhn hätte schon sein Ziel erreicht, wenn möglichst viele auf der Seite ihres Stadt- oder Landkreises nachschauen würden, wie sie Flüchtlinge unterstützen können.

  5. #5 Beobachter
    28. März 2022

    zu # 3 und 4

    hier den begriff triage zu verwenden, halte ich für verfehlt.
    und noch mehr fragebögen und papiere zu produzieren, die viele nicht verstehen und die niemand auswertet und die auch keine konsequenzen haben, finde ich überflüssig.
    man braucht kompetente leute vor ort, die die betroffenen beraten und begleiten.
    denn selbst deutsche hilfsbedürftige finden sich im deutschen bürokratie-, ämter- und gesetzestextdschungel oft nicht alleine zurecht.
    hier hat sich der einsatz von lotsen und paten schon lange bewährt – nur es gibt zu wenige geschulte ehrenamtliche und zu wenige sozialarbeiter sowieso.

    berichte aus der praxis wie den von frau reisig sollte man viel häufiger veröffentlichen – in der hoffnung, dass sie doch einige leute aufrütteln und aktivieren.
    auch die akademischen entscheider an ihren schreibtischen …

    wer jemals über längere zeiträume z. b. kranke bzw. pflegebedürftige, alte, schwerhörige, nichtmobile leute im deutschen medizinbetrieb bzw. gesundheitssystem begleitet hat, könnte zuhauf ähnliche berichte aus der realität bzw. praxis verfassen.

  6. #6 hwied
    28. März 2022

    XXX

    [Kommentar gelöscht. Ein Wikipedia-Auszug zum Bundesgesundheitsamt gehört nicht hierher. Das Thema hatten wir übrigens gerade erst nebenan. JK]

  7. #7 Staphylococcus rex
    28. März 2022

    Eine Flüchtlingswelle wie die aktuelle aus der Ukraine überfordert die staatlichen Strukturen, hier ist die Zivilgesellschaft gefragt. Das ist aber kein Grund, die Behörden aus der Verantwortung zu entlassen, ganz im Gegenteil. Was fehlt, sind die Schnittstellen zwischen Behörden und der Zivilgesellschaft, diese Schnittstellen wurden auch in dem Bericht von Frau Reisig schmerzhaft vermisst.

    Natürlich wäre es schön, wenn mit jedem Flüchtling ein ausführliches Gespräch geführt werden könnte, weil an diesem Bereich personelle Ressourcen knapp sind, wäre es hilfreich bereits vorher den ungefähren Gesprächsbedarf abzuschätzen. Ein Fragebogen, um zwischen Personen mit niedrigem und mit hohem Betreuungsbedarf zu unterscheiden, würde vor Ort viel Zeit sparen. Die Lenkung von Patientenströmen in einer Notaufnahme oder die Lenkung von Flüchtlingsströmen in einer Erstaufnahmestelle sind vergleichbare Herausforderungen.

    Damit wären wir auch beim Thema dieses Beitrags von Joseph Kuhn, die Behörden und Krisenstäbe vor Ort müssten jedes Mal das Rad neu erfinden, diese Schnittstellen sind ein klassisches Public Health-Thema, allerdings nicht für den Elfenbeinturm der „reinen Wissenschaft“, sondern für eine Art schnelle Eingreiftruppe, die am Besten bei einem Zentralinstitut angesiedelt sein sollte.
    Als Modell schwebt mir das Lagezentrum des RKI vor:
    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Preparedness_Response/Krisenplanung_RKI.html

  8. #8 Kurt Schumacher
    14. Mai 2022

    Nachtrag zum Thema Gesundheitsämter. Das ist ja ein Teil von Public Health. Wie ich bei Amazon gesehen habe, gibt es seit kurzem (Erscheinungsdatum 1. Mai 2022) ein Buch von Gine Elsner: “Vom Abseits in die Mitte: die Gesundheitsämter: Kreisärzte, Medizinalräte, Amtsärzte: Geschichte und Aktualität einer Institution”.
    Wer diesem Blog folgt, interessiert sich vielleicht auch für dieses Buch. Ich will es mir jedenfalls demnächst besorgen und lesen. Es kostet 19,80 Euro.