Putins Angriff auf die Ukraine hat Europa wachgerüttelt. Die Frage ist, aus welchem Traum. War es die Illusion des immerwährenden Friedens oder die Hoffnung darauf? Und sind wir schon wach genug, wenn wir jetzt militärisch aufrüsten, wie es die Welt noch nicht gesehen hat?
Meine These ist, dass die Hoffnung auf Frieden mehr braucht als Panzer und der Westen seine vielzitierten Werte wieder ernster nehmen muss. In erster Linie sollte er das tun, weil sich damit die Perspektiven der Menschen bei uns auf ein gutes, menschenwürdiges Leben verbinden, aber es würde auch die Resilienz der westlichen Gesellschaften in der geistig-moralischen Auseinandersetzung mit den Antidemokraten im Innern wie im Äußeren stärken, gegen Putins imperiale Eurasien-Pläne ebenso wie gegen rechtspopulistische „Wir holen uns unser Land zurück“-Volksvergewaltigungsphantasien.
Keine Frage: „Freedom & Democracy“ wurde schon immer auch als strategische Waffe des Westens missbraucht und der Westen hat diese Werte selbst oft genug mit Füßen getreten. Sie waren aber auch ein Versprechen, um dessen Einlösung tatsächlich gerungen wurde. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, der berühmte Spruch Willy Brandts, war keine leere Floskel, und zugleich eine außenpolitisch wirksame Botschaft im kalten Krieg. Davon ist nach dem scheinbaren „Ende der Geschichte“ 1989 nicht viel geblieben. Wer in den letzten Jahren in Deutschland oder in den USA davon gesprochen hätte, dass das Licht der Demokratie in die Welt hinausstrahlt, hätte sich wohl schon vor der Wortwahl her lächerlich gemacht. Glaubwürdig sind seit einiger Zeit vor allem die monetären Werte des Westens, die Freiheit des Handels und Gewinnemachens.
Derzeit kann man immer wieder lesen, Putin hätte keine Angst vor der Nato, sondern Angst vor der Demokratie. Das wird wohl so sein. Aber gerade deswegen sollte man dann auch einmal darüber diskutieren, wie sehr er davor überhaupt Angst haben muss. Wie war es um Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Minderheitenrechte in der Ukraine bestellt, wie gut können Polen oder Ungarn solche Werte vertreten, oder die Türkei? Wie viel demokratischer Furor ging von Trumps USA aus? Sind Putins Lügen verwerflicher als die Trumps? Und welche Werte verteidigt Frontex an den EU-Außengrenzen gegen Flüchtlinge? Fragen, die hier nicht als Whataboutism funktionieren sollen, sondern als Rückfragen an unsere Identität.
Autokraten sind sich der Wirksamkeit von Menschenrechten, Demokratie und Freiheit in der politischen Auseinandersetzung in der Tat bewusst, aber ebenso der Schwächen, die der Westen hier inzwischen zeigt.
Im SPIEGEL 13/2022 ist ein kurzes Interview mit einem Herrn namens Mansour Almarzoqi. Er wird als saudi-arabischer Politikwissenschaftler vorgestellt. Gehört Saudi-Arabien zum Westen? Wenn ja, sicher nicht zur westlichen Wertegemeinschaft jenseits der Dollars. Almarzoqis Sicht auf die Menschenrechte zeigt, wie wenig Mühe sich die Eliten der Autokratien noch geben, ihren Zynismus in Sachen Menschenrechten zu verbergen:
„Ein Hauptunterschied zwischen Geschäften [Saudi-Arabiens, JK] mit Washington und denen mit Peking besteht darin, dass die USA hegemoniale, expansionistische Ziele verfolgen und dann von uns verlangen, diese Ziele mit ihnen gemeinsam zu verfolgen. Das erhöht die Kosten.“
„Nur ein Narr würde Washington vertrauen. Nur ein Naiver würde sich auf die USA verlassen.“
„Der Westen versucht, dem Rest der Welt sein Wertesystem aufzuzwingen, und benutzt zudem die Menschenrechtsfrage als Erpressungsinstrument, um wirtschaftliche und politische Zugeständnisse zu erhalten. Wenn Sie also glauben, wir würden uns nicht wehren, irren Sie sich.“
Herr Almarzoqi stellt dabei noch nicht einmal die Frage, wie glaubwürdig der Westen seine eigenen Werte vertritt, er macht aus den Menschenrechten lediglich eine Frage des moralischen Lokalkolorits. Mag der Westen Menschenrechte wichtig finden, in Saudi-Arabien gehören eben Hinrichtungen zum angestammten Wertesystem. Dass das aus dem Blickwinkel der Hingerichteten vermutlich nicht so ist, fällt unter den Tisch. Der SPIEGEL fragt auch nicht nach – was letztlich aber egal ist, weil die Äußerungen Amarzoqis für sich sprechen. Demgegenüber wirkten früher kulturrelativistische Argumente gegen Demokratie und Menschenrechte, z.B. seitens des Diplomaten Kishore Mahbubani in einem SPIEGEL-Interview 2008, noch regelrecht defensiv, nach dem Motto, lasst uns bitte etwas Zeit mit unseren autoritären Regimen, das wird schon noch. Almarzoqi klingt dagegen eher wie jemand, der in Sachen Menschenrechten kein schlechtes Gewissen mehr hat.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 hatte einen weltumspannenden zivilisatorischen Anspruch. Der freie Markt allein konnte das nicht einlösen, er wird es auch mit mehr Panzern nicht können.
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Zum Weiterlesen:
• Blogbeitrag „Die Werte des Westens“. 2014.
• Geiselberger H (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin 2017.
• Ther P: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation. Berlin 2019.
• Krastev I, Homes S: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. Berlin 2019.
• Sandel M: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Frankfurt 2020.
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