Der Begriff „Faschismus“ ist bekanntlich keiner, der einheitlich gebraucht wird oder eine explizit ausformulierte Ideologie bezeichnet. Für die meisten Menschen ist er zwar negativ konnotiert, aber alles Weitere wird dann schnell uneinheitlich und teilweise auch widersprüchlich. Das lässt den Begriff in politischen Auseinandersetzungen zuweilen recht schillernd werden, man erinnere sich an Habermas Vorwurf des „Linksfaschismus“ gegenüber der APO Ende der 1960er Jahre oder an Putins Behauptung, die Ukraine würde von „Faschisten“ regiert.
Ich habe einmal aus verschiedenen Texten Elemente zusammengetragen, die ich für Facetten faschistischer Herrschhaft halte:
• Populistische Herrschaftslegitimation
• Beschwörung einer angeblich großen kulturellen Vergangenheit
• Der Führer als Verkörperung des wahren Volkswillens
• Loyalitätszwang und Nepotismus im engen Umfeld
• Stärke, Härte, Heldentum, Männlichkeit als soziale Normen
• Markierung von Feindbildern und Sündenböcken
• Missachtung von institutionellen checks and balances
• Missachtung von Minderheitenrechten und individuellen Menschenrechten
• Delegitimierung abweichender Meinungen als „Verrat“
• Demonstrativer Einsatz von Gewalt gegen abweichende Meinungen
An diese Liste kann man viele Fragen stellen. Sind die genannten Facetten konstitutiv für den Faschismus? Sind sie spezifisch für Faschismus oder gelten sie für jede Art der Diktatur? Oder hat umgekehrt jede Diktatur eine Reihe faschistischer Facetten? Sind alle Facetten nötig? Oder fehlen vielleicht wichtige Aspekte? Ob man zum Beispiel auch Antisemitismus und Rassismus dazu nehmen sollte, die für den deutschen Nationalsozialismus kennzeichnend waren? Oder sind das nur mögliche Ausformungen der Markierung von Feindbildern und Sündenböcken? Wäre Antisemitismus ein notwendiges Bestimmungselement, könnte es per definitionem keine israelischen Faschisten geben. Gibt es so etwas? Und wie sieht es mit Nationalismus aus? Wenn man Putins Herrschaft als „faschistisch“ bezeichnet, wird es mit dem Nationalismus schwierig, zumindest wenn man ihn ethnisch versteht. Russland ist ein Vielvölkerstaat. Weiter: Ist Antikapitalismus ein Merkmal von Faschismus? Bekannt ist Horkheimers Satz „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Einerseits passt Kapitalismus, zumindest als „freies Unternehmertum“, nicht gut zum Führerprinzip. Andererseits: In Pinochets Chile (war Pinochet ein Faschist oder „nur“ ein rechter Diktator?) haben Marktradikale ihr Eldorado gefunden und bekanntlich war die deutsche Wirtschaft auch mit Hitler ganz zufrieden, so wie die Oligarchen es mit Putin sind, oder vielleicht waren.
Man wird in einer Blogdiskussion nicht die Klärung herbeiführen können, die viele dicke und kluge Bücher nicht erreicht haben. Aber vielleicht gibt es punktuelle, oder persönliche Einsichten. Insofern: Argumente willkommen!
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Zum Weiterlesen:
• Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1991.
• Zeev Sternhell: Faschistische Ideologie. Berlin 2019.
• Enzo Traverso: Die neuen Gesichter des Faschismus. Köln/Karlsruhe 2019.
• Madeleine Albright: Faschismus. Köln 2019.
• Wolfgang Veiglhuber, Klaus Weber (Hg.) wagenknecht – nationale sitten & schicksalsgemeinschaft. gestalten der faschisierung 2. Hamburg 2022.
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Nachtrag 23.4.2022:
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