Es ist eine wiederkehrende Debatte und das Wiederkehrende zeigt an, dass es um einen wichtigen und immer wieder neu zu verhandelnden Streitpunkt geht: Was darf Protest? So ähnlich wie die ewige Frage, was darf Satire. Nur ernster.
Der Fall: In Berlin ist Anfang der Woche eine Radfahrerin von einem LKW überfahren worden und gestorben. Zunächst hieß es, durch eine gleichzeitig stattfindende Verkehrsblockade von Klimaaktivist/innen sei der Einsatz eines Rettungsfahrzeugs behindert worden, später hieß es dann, der Protest der Klimaaktivist/innen habe keine Folgen für den Verlauf des Unglücks gehabt.
In den Medien und in der Politik brach nach den ersten Meldungen über den Tod der Radfahrerin eine Welle der Empörung über die Klimaaktivist/innen los. Es wurde nach dem Strafrecht gerufen, nach dem Verbot der Gruppe „Last Generation“ und der Terrorismusvorwurf stand im Raum. Der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag Dobrindt sprach sogar von der „Klima-RAF“. In seltener Einigkeit vereint: BILD, AfD, die Union und die Ampelparteien. Ebenso die Polizeigewerkschaft. Und die Kirche nicht zu vergessen, etwa mit der Stimme des früheren EKD-Vorsitzenden Bedford-Strohms. Der Vorfall muss – psychoanalytisch betrachtet – eine kathartische Funktion haben, anders ist das fast nicht zu erklären. Fragt sich nur, was das Verdrängte ist, das sich da Bahn brach. Unser kollektives schlechtes Gewissen angesichts weitgehender Untätigkeit gegenüber der nicht mehr zu übersehenden Klimakatastrophe? Die Lust, sich von einem „woken“ Gutmenschentum abzugrenzen?
Stefan Niggemeier stellt auf seiner Seite ÜberMedien die Diagnose, man habe es hier mit einer „unmöglichen Debatte“ zu tun. Das glaube ich nicht, es ist eine nötige Debatte und Stefan Niggemeier führt sie auch sehr gut. Er fragt zu Recht, ob die später bekannt gewordene Tatsache, dass der Protest der Klimaaktivist/innen den Tod der Radfahrerin nicht verursacht hat, etwas an der Problematik von Protesten ändert, die solche Folgen haben können. Eine gute Frage, die sofort zur Folgefrage führt, ob dann überhaupt noch im öffentlichen Raum protestiert werden kann, weil dort potentiell jeder Protest auch Gefahren für Dritte in sich birgt. Stefan Niggemeier zitiert einen Tweet, der darauf hinweist, dass 2019 in Oldenburg Bauern mit 1700 Traktoren den Verkehr lahmgelegt haben. Solche Bauernproteste gibt es immer wieder – ohne dass den Bauern angedroht wird, sie in den Knast zu bringen. Zwei Paar Stiefel? Oder zweierlei Maß?
Eher Satire ist, wenn querdenkende und rechtspopulistische Kreise in den Chor derer einstimmen, die verkehrsbehindernde Klimaaktivist/innen in die Nähe von Terroristen rücken, als ob ihre eigenen Demos verkehrsdurchlässig wären. Aber Satire darf bekanntlich alles.
Es gibt eine lange und publikationsreiche Debatte darüber, ob Gewalt ein legitimes Mittel des Protests ist, mit unterschiedlich guten Argumenten auf beiden Seiten. Einerseits kann Protest nicht nur legitim sein, wenn er niemanden stört und in „repressiver Toleranz“ (Herbert Marcuse) untergeht, andererseits sollte man bei dem Thema hochsensibel sein, bevor mit echten oder vermeintlichen Bedrohungen gewaltbereiter Widerstand begründet wird. Die Grenze zum politisch motivierten Mord und zum Terrorismus ist nicht gut gesichert.
Aber: Ist das hier überhaupt einschlägig? Die Klimaaktivist/innen haben keine Gewalt ausgeübt und sie haben den Tod der Radfahrerin auch nicht fahrlässig in Kauf genommen. Aber er geschah, und der Protest der Klimaaktivist/innen hätte unter anderen Umständen dafür ursächlich sein können. So wie vieles von dem, was wir aus guten Gründen tun, auch böse Folgen haben kann.
Ergo? Eine nötige Debatte, die weder durch brutalstmögliche Ansagen von der einen Seite („das sind Straftäter“) noch durch Unschuldsbekundungen von der anderen Seite („es ist doch nichts passiert“) beendet werden kann.
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Zum Weiterlesen:
Stefan Niggemeier: Die unmögliche Debatte um den Tod einer Radfahrerin
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