Vor fünf Jahren hatten wir hier schon einmal die Frage, was einen blickfelderweiternden Vergleich von Whataboutism unterscheidet. Das Thema will ich noch einmal aufgreifen, weil in der Causa Aiwanger von verschiedenen Seiten auf andere Fälle von Politiker:innen hingewiesen wurde, die eine heikle Vergangenheit haben oder sich zu schweren Fehlern verhalten mussten.

Genannt wurden beispielsweise der frühere Außenminister Joschka Fischer, der in jungen Jahren in der autonomen Szene Frankfurts gewalttätig unterwegs war, oder die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, einst aktiv im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, der Schriftsteller Günter Grass, der als junger Mann der Waffen-SS war, oder die diversen Ex-Nazis in der frühen Bundesrepublik, in der es Hans Globke bis zum Chef des Bundeskanzleramts unter Adenauer oder Kurt Georg Kiesinger sogar bis zum Kanzler gebracht hatte. Aktuelle Fälle sind Andrej Holm, der aufgrund seiner Stasi-Vergangenheit als Staatssekretär in Berlin zurückgetreten ist oder Jürgen Baumgärtner, früher rechtsextrem, heute für die CSU im Bayerischen Landtag. Mit Blick auf Verfahrensweisen an bayerischen Schulen wurde auch an den Fall Christine Schanderl erinnert.

In den Medien wurden dann beispielsweise Unterschiede der Ziele, die die genannten Personen verfolgt haben, vorgebracht, Unterschiede des Grades an Radikalität, Unterschiede der zeithistorischen Umstände – und vor allem, wie sie sich später zu ihrer Vergangenheit verhalten haben. So klärte beispielsweise Jürgen Baumgärtner in Schulen darüber auf, wie er seinerzeit in rechtsextreme Kreise geriet und wieder herausfand.

Solche Vergleiche sind aufschlussreich, eben weil sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Fälle beleuchten helfen. Ein Vergleich wird also neue Aspekte eines Sachverhalts zutage bringen und dazu beitragen, Kriterien der Bewertung weiterzuentwickeln. Diese Bewertung kann für einen konkreten Fall dann gut oder ungut ausgehen. Am Ende eines Vergleichs ist grundsätzlich offen, wie ein Fall zu bewerten ist. Der Vergleich richtet den Blick nach wie vor auf den infrage stehenden Fall und ordnet ihn ein einen allgemeineren Rahmen ein, dessen Kategorien induktiv aus dem Nebeneinanderstellen mehrerer Fälle mit ihren Besonderheiten gewonnen wurden.

Demgegenüber geht es beim Anführen anderer Fälle beim Whataboutism nicht darum, neue Aspekte in die Diskussion einzuführen und einen konkreten Fall anhand des Vergleichs mit anderen Fällen besser einzuordnen. Der Wikipedia-Eintrag zum Stichwort „Whataboutism“ spricht zu Recht von einer Relativierungsstrategie. Ziel ist nicht, den konkreten Fall besser zu verstehen, sondern ihn aus dem Schussfeld zu nehmen, ihn anhand der anderen Fälle zu relativieren. Diese werden daher auch nicht näher betrachtet, sondern nur pauschal in einem false balance-Rahmen unter dem Motto „die auch“ eingeführt, um dem konkreten Fall die individuelle Brisanz zu nehmen.

Zugleich soll damit die Schwere erhobener Vorwürfe neutralisiert werden. Man findet in whataboutistischen Kontexten z.B. nie eine Argumentation nach dem Muster „bei X hat man das gleiche Verhalten zwar durchgehen lassen, aber das sollte man hier und heute nicht mehr tun“.

Dementsprechend werden auch die Vergleichsfälle auf das gewünschte Bewertungsergebnis hin ausgesucht: im Falle Aiwangers etwa Fischer, der im Amt blieb, und nicht Andrej Holm, der zurücktrat. Interessanterweise wurde z.B. auch nicht Globke angeführt, der im Amt blieb, aber hier aufgrund des Nazi-Bezugs nicht so gut als Entlastungsfall dienen könnte. Auch Jürgen Baumgärtner wurde, so weit ich es sehen konnte, in whataboutistischen Kontexten nicht genannt – weil das eben die Frage des angemessenen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit und der Glaubwürdigkeit der Auseinandersetzung damit aufgeworfen hätte. Da hatte Aiwanger ja in erster Linie Erinnerungslücken. Was konkret die durch das „einschneidende Ereignis“ ausgelösten „wichtigen gedanklichen Prozesse“ waren, bleibt nach wie vor sein Geheimnis.

Um es in einem Satz zusammenzufassen: Ein Vergleich ist ein Brille zu Verbesserung der Sicht, Whataboutism ist eine Scheuklappe.

Kommentare (18)

  1. #1 RPGNo1
    5. September 2023

    Danke für die Erklärung

  2. #2 Neumann
    5. September 2023

    XXX

    [Edit: Kommentar gelöscht. Die Buchstabenreihenfolge ergab keine sinnvollen Sätze. JK]

  3. #3 rolak
    5. September 2023

    Whataboutism ist eine Scheuklappe

    Da tendiere ich mehr zu

    Whataboutism ist der Versuch, Anderen unbemerkt eine Scheuklappe zu verpassen

    Ansonsten: schön aufgedröselt!

  4. #4 Adent
    6. September 2023

    Sehr schön dargestellt, mal sehen ob die gemeinte(n) Person(en) gleich mit neuen Whataboutism um die Ecke kommen 🙂
    Ich tendiere eher dazu der Bär versteht gar nicht was du ihm sagen willst.
    Robert scheint ja schon mit unsinnigem Geschwafel als erster aufgeschlagen zu sein.

  5. #5 Neumann
    6. September 2023

    Nachtrag zu Whataboutism,
    mit diesem Amerikanismus ist ja alles klar ?
    Herr Kuhn hat ein Vergleichsraster gemacht, dass in die Kategorie Fachliteratur gehört.
    Wir haben es hier und heute mit einer politischen Auseinandersetzung zu tun, bei der mit “unsauberen” Argumenten gekämpft wird.
    Das geht von der fehlenden juristischen Anklage über nicht bewiesene “Beweise” über politisches Kalkül, dass sich über ethische Grenzen hinwegsetzt bis zur Weigerung, dass sich beide Beteiligen öffentlich einer Auseinandersetzung vor der Kamera stellen.

    Herr Kuhn ihre Erklärung dazu ist vollständig aber gleichzeitig wird sie dadurch schwer verständlich.
    Bitte etwas volkstümlicher.

    Herr Adent , beim Vorwurf zu schwafeln lasse ich Ihnen den Vortritt.

  6. #6 Staphylococcus rex
    6. September 2023

    Der Umgang mit Vergleichen bzw. Whataboutismen ist Bestandteil des Umgangs mit der uns umgebenden Realität. Bei Wissenschaftsleugnern werden Mittel verwendet, die im PLURV-Konzept (auf Englisch FLICC) dargestellt werden.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftsleugnung
    In diesem Kontext dienen Whataboutismen nicht dazu, eine Realität besser zu verstehen, sondern dazu, eine unbequeme Realität zu verdrängen.

    Die hier aktiven üblichen Verdächtigen sind sich der Tatsache durchaus bewußt, dass sie den Zugang der Realität zu ihrem Bewußtsein vorsätzlich begrenzen, indem sie das Konzept des Glaubens verteidigen:
    https://scienceblogs.de/bloodnacid/2023/08/01/wonach-die-leute-suchen-7-final/#comment-409824

    PS: Whataboutismen sind kein Amerikanismus, sondern ein Propagandakonzept aus Sowjetzeiten.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Whataboutism

    • #7 Joseph Kuhn
      6. September 2023

      @ Staphylococcus rex:

      “Whataboutismen sind kein Amerikanismus, sondern ein Propagandakonzept aus Sowjetzeiten.”

      Diese rhetorische Figur ist vermutlich so alt wie die Menschheit, jedenfalls älter als die Sowjetunion. Man kennt sie als Kinderausrede: “Der Leo hat aber auch …”, und auch aus der Bibel: “Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?” Mt 7,3

  7. #8 Tina
    6. September 2023

    @Joseph Kuhn

    Um es in einem Satz zusammenzufassen: Ein Vergleich ist ein Brille zu Verbesserung der Sicht, Whataboutism ist eine Scheuklappe.

    An der Stelle ist mir nicht ganz klar, was für eine Scheuklappe hier gemeint ist.
    Hat derjenige, der Whataboutism betreibt, selbst eine Scheuklappe auf und wenn ja, könnte er die abnehmen, wenn er wollte, hätte also Einfluss auf das Tragen dieser? Oder will er mit seinem Whataboutism anderen eine Scheuklappe aufsetzen, so wie @rolak es versteht?

    Die Merkmale für Whataboutism in der Vergleichstabelle sprechen eher für ein aktives Handeln mit einem definierten Ziel. Der Vergleich mit der Brille spricht eher für das Selbertragen. Oder ist jemand gemeint, auf den beides zutrifft, der also selber eine Scheuklappe trägt und gleichzeitig anderen auch eine aufsetzen will?

    • #9 Joseph Kuhn
      6. September 2023

      @ Tina:

      Vielleicht hinkt der Vergleich etwas, was aber nicht als Whataboutism gemeint ist 😉

      Im Ernst: Es wird alle Mischungsverhältnisse zwischen Täuschung und Selbsttäuschung geben.

  8. #10 Tina
    6. September 2023

    @Joseph Kuhn

    Es wird alle Mischungsverhältnisse zwischen Täuschung und Selbsttäuschung geben.

    Gut, dann ist das auch geklärt ;-).
    Jetzt müsste man über denjenigen, der Whataboutism betreibt, nur noch wissen, ob er sich in einer bestimmten Situation gar nicht anders verhalten kann (wegen der eigenen Scheuklappe, die sich dem Absetzen hartnäckig widersetzt) oder ob er schon anders könnte, aber nicht will, also ganz gezielt seinen Whataboutism betreibt, um andere zu beeinflussen.
    Diese Frage stellt sich ja nicht nur beim Whataboutism, sondern in ganz vielen Situationen und ist von außen oft schwer zu beurteilen.

  9. #11 Dr. Webbaer
    7. September 2023

    Es fällt nicht immer leicht die Unterschiede zwischen bloßen Relativierungen, gerne auch neuerdings Whataboutismus genannt, und der (möglichst) passenden Einordnung (oft passt es so nicht gänzlich) auf Grund vergleichbarer Fälle und vor allem auf Grund geteilter Konzepte – Dr. Webbaer hat beispielsweise die integrative Kraft der Demokratie genannt, die einstmalige Täter integrieren konnte, eben demokratisch – fällt nicht immer leicht.

    Wenn der Max bspw. in der Schule für eine Tat bestraft worden ist und ihm als Verteidigung nur die Aussage “Der Moritz hat vor zwei Wochen dieses oder jenes (aus meiner Sicht) Vergleichbare getan und ist nicht bestraft worden!” einfällt, dann ist dieser Einwand nicht einfach wegzuwischen, auch wenn offensichtlich sogenannter Whataboutismus vorliegt.

    Relativierungen meinen ja wörtlich Vergleiche, die nicht immer abschwächend gemeint sein müssen, also mit “Bitte nicht relativieren!” wäre es aus diesseitiger Sicht zu einfach?
    Auch weil die Relativierung keineswegs zwingend negativ konnotiert werden sollte?
    Es geht sozusagen auch um die Kultur (in diesem Fall um die öffentliche Kultur) der wie immer auch möglichen Bestrafung.

    Mit freundlichen Grüßen + bestes weitergehendes Leben
    Dr. Webbaer

  10. #12 yohak
    7. September 2023

    Nun ein offensichtlicher Unterschied zwischen dem Fall Aiwanger und den anderen zitierten Fällen besteht darin, daß Aiwanger zur Zedit dieses unsäglichen Flugblatts ein minderjähriger Schüler war, während es in den meisten anderen angeführten Fällen um Fehlverhalten als junger Erwachsener (aber eben als volljähriger Erwachsener) ging.

  11. #13 naja
    8. September 2023

    Nur so, weil ich es nachgeschaut habe. Günter Grass war 17, als er im Mai 45 festgenommen wurde.

  12. #14 PDP10
    8. September 2023

    @yohak:

    Nun ein offensichtlicher Unterschied [..]

    … besteht auch darin, wie die “anderen Fälle” sich zu ihrer Vergangenheit öffentlich positioniert haben.

  13. #15 PDP10
    9. September 2023

    Ich denke, sehr vereinfacht könnte man sagen: Vergleiche dienen dazu ein Thema besser zu verstehen. Whataboutisms dazu vom Thema abzulenken.

    Ergänzend dazu gibt es meiner Meinung nach allerdings auch noch eine andere Art von Whataboutism, die oben im Artikel nicht angesprochen und kategorisiert wurde – und die ganz besonders nervt.
    Ich nenne ihn den Whataboutism aus der Hölle. Nämlich aus der Hölle des zu großen und / oder narzisstischen Egos. Diese Art tritt in der Regel auf in allerlei Variationen von Posts, die implizieren: “Dieses (mein) Thema ist aber viel wichtiger als das hier und wenn ihr das nicht sofort versteht, seid ihr dumm und böse!”

    Man sehe sich nur als leicht zu verstehendes Beispiel die Posts gewisser Kommentatoren an, deren Nick mit ‘B’ oder ‘h’ anfängt. Die und andere Knallchargen haben diese Form zur Meisterschaft entwickelt.

  14. #16 Fluffy
    10. September 2023

    @#15
    Whataboutismus ist alles mögliche.
    Eine beliebte Frage in Intelligenztests ist:
    Vergleich verhält sich zu Gleichmacherei wie Relation zu… (Whataboutismus)

    Whataboutismus ist Kritik an einer Ungleichbehandlung.
    Alle Tiere sind gleich, aber manche sind noch gleicher.

    #15 kommt mir vor, wie ein Blick aus dem Spiegel, so eine Art Reflexion im Jungschen Sinne.
    Whataboutismus ist eben die Meinung der anderen, die aus der Hölle kommen, Narzissten.

  15. #17 Dr. Webbaer
    10. September 2023

    Irgendein Gag, der mal zum Thema “Whataboutism” (den es gibt, der soll nicht weggeschwatzt werden), in Erinnerung geblieben ist, ging so :

    In der Sowjetunion gab es Probleme mit dem Metro-Netz, in Moskau unzufriedene Gäste aus dem “Westen” jammerten bis jaulten, der von der SU zugeordnete Reiseführer verwies auf die Unterdrückung der Schwarzen in den USA.

    Also derart krasse Fälle von “Whatabotism” sind wohl allgemein abzulehnen, dennoch liegt es generell im Auge des Beobachters, wann “Whataboutism” vorliegt und wann er abzulehnen ist, es darf dazu gestritten werden?

  16. #18 Fluffy
    10. September 2023

    Das ist die Art, wie man Stimmung bzw Antistimmung erzeugt.

    Im Prinzip hat es sich so zutragen.
    Nur dass es Bauer Wassja Petrowitsch war, der sich beschwerte, dass seine Stiefel dreckig waren,
    und dass es keine schwarze Schuhcreme gab.