Mittwochnachmittag bin ich zu einem Kongress nach Berlin aufgebrochen. Mit der Bahn. Meinen aktiven Part hatte ich am Samstag früh, um eventuelle Verzögerungen musste ich mir also keine Sorgen machen. Der Zug fuhr ganz pünktlich los. Das ist ungewöhnlich, kein gutes Omen. Zwar gab es dann immerhin eine Weichenstörung, kleine Verzögerung, aber mit einer halben Stunde Verspätung war ich in Berlin, für Bahnverhältnisse eigentlich zu pünktlich, die Bahnwelt war nicht wirklich wieder in Ordnung.
Die nächsten Tage sicherheitshalber immer ein Blick in die Nachrichten: Macht der Bahngewerkschafter Claus Weselsky etwa seine Streikdrohung schon am Wochenende wahr? Beruhigende Nichtnachrichten. Bis Samstag Mittag ein Zug nach München nach dem anderen gecancelt wurde. Meiner auch. Weselsky mutmaßlich unschuldig – Schnee wie nie in Süddeutschland, der Traum aller Skifahrer. Bahnfahrer haben andere Bedürfnisse. Ich konnte ersatzweise in einem Zug nach Zürich mitfahren. Der Plan: Umstieg in Erfurt, Weiterfahrt nach Nürnberg, dann irgendwie Richtung Süden durchschlagen, wird schon was gehen. Stattdessen lt. Bahn-App noch vor Erfurt die Auskunft, dass von Nürnberg aus gar nichts mehr nach Süden ginge. Google wusste mehr, der Hauptbahnhof München war komplett gesperrt. Sogar behördlich.
Optionen: Weiterfahren nach Nürnberg, dort ein Hotel nehmen oder weiterfahren bis Fulda, dann von da nach Würzburg, Übernachtung bei Verwandten und am Sonntag weiter. Letzteres war attraktiver. Allerdings wurde der Zug kurz nach Eisenach mit Steinen beworfen. Von wem auch immer und warum auch immer. Eine Scheibe gesplittert, musste verklebt werden. Dazu musste der Zug in einen Bahnhof mit Bahnsteig auf der richtigen Seite. Bis dahin Schneckentempo, quälend lange. Hätten die nicht den nächsten Zug bewerfen können? Heiliger St. Florian, bitte nicht auf meine Bahn? Gut, das ist moralisch unkorrekt, gestrichen.
In der Folge waren die ICE-Verbindungen von Fulda nach Würzburg Geschichte. Verbleibende Optionen: Von Fulda bis Schlüchtern, dann umsteigen nach Würzburg. Oder weiter bis Hanau, dann umsteigen nach Würzburg. Die Wahl war einfach: Lieber in Hanau einen eventuell ausfallenden Zug überstehen als in Schlüchtern. Also weiter nach Hanau. Der Zug nach Würzburg hatte, aber darauf kam es dann auch nicht mehr an, 45 Minuten Verspätung. Der Rest lief glatt.
Sonntag früh zurück zum Hauptbahnhof Würzburg: Richtung Dachau wurde die Regionalbahn nach Treuchtlingen empfohlen, von dort eine weitere nach Dachau. Wunderbar, gut drei Stunden, was will man mehr. Verschneite Winterlandschaften vom Zug aus anzusehen, ist eine schöne Sache. Der Zug nach Treuchtlingen muss wohl ein Erbstück aus der DDR gewesen sein. Kaputte Türen, Heizung ging lange nicht, 60er-Jahre Ambiente, Apfelschalengeruch. Aber er war pünktlich auf die Minute. So was ist, wie gesagt, kein gutes Omen. Die Wiederherstellung der Ordnung in der Bahnwelt folgte prompt: Der Anschlusszug ging nicht wie angekündigt bis Dachau, sondern, überraschende Ansage, „heute nur bis Ingolstadt“. Dafür wurden die Fahrkarten kontrolliert, so viel Ordnung muss sein. Auf dem Bahnsteig in Ingolstadt stand sogar eine Bahnbedienstete. Für die Frage, ob heute noch was nach Dachau geht, hatte sie allerdings nur ein ratloses Achselzucken. Die Bahn ist nicht schuld am schlechten Wetter, aber für den schlechten Umgang damit kann sie schon was.
Was nun? Zurück nach Würzburg? Hotel in Ingolstadt? Die Entscheidung kam auf Gleisen: Ein ICE aus Hamburg, mit einer Stunde Verspätung, einer der wenigen Fernzüge, die schon wieder nach München durften. Die S-Bahn nach Dachau fuhr lt. Bahn-App zwar nicht, auch sonst keine Bahn, aber die App lockt mit einer Verbindung Straßenbahn plus Bus, nur 53 Minuten von Hauptbahnhof München bis Dachau. Also rein in den ICE. Andere waren auch schon drin, bequemer Stehplatz bis München. Vor München nochmal ein Stopp, die Strecke war teilweise nur eingleisig befahrbar. Dann – endlich: München ist nicht Bielefeld, sondern existiert wirklich. Ganz sicher war ich mir nicht mehr.
Im Hauptbahnhof München Chaos pur, eine zum Obdachlosenasyl umfunktionierte Regionalbahn stand am Dachaubahnsteig, hab mal reingeschaut, ein schwerst alkoholisierter Niederländer mit Verlust der zeitlichen Orientierung erklärt mir, schon zwei Tage da zu sein, an den Bahnsteigen kein Personal, dafür lange Schlangen vor den wenigen Infoschaltern. Aber ich hatte ja meine Straßenbahn. Nur, dass die nicht fuhr. Keine Straßenbahn fuhr. Die Bahn-App wusste es halt nicht. Nicht weiter schlimm, der Bus war auch mit einer U-Bahn erreichbar. Und er fuhr. Sogar 5 Minuten zu früh, ich war auch 5 Minuten zu früh, alles gut. Vom Bahnhof Dachau noch 20 Minuten zu Fuß mit dem Koffer durch den Matsch und schon war ich daheim. 24 Stunden später als geplant. Home, sweet home!
So eine Bahnfahrt ist eines der letzten Abenteuer in Deutschland. Alles ist ungewiss. Man lernt eine Menge Leute kennen und erzählt sich seine Reisebiografie, man sieht, wie unterschiedlich Menschen mit Stress umgehen, man muss ständig neu entscheiden, man lernt zu improvisieren, man wird demütig und dankbar für alles, was nicht noch schlimmer kommt als das, was schon passiert ist. Was will man mehr?
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