Im Gesundheitswesen gibt es viele Bereiche, die von einer weitergehenden Digitalisierung profitieren würden. Allerdings hat man im Moment den Eindruck, als ob „Digitalisierung“ als Sesam-öffne-dich zur Lösung aller Probleme im Gesundheitsbereich gesehen wird. Genauer gesagt, man fragt gar nicht mehr, welches Problem man lösen will, man digitalisiert einfach. Dysfunktionale Strukturen werden aber nicht besser, wenn man sie digitalisiert. Sie sind digital dysfunktional.
Dass Tabak immer noch rund um die Uhr verkäuflich ist, als sei es ein lebensnotwendiges Produkt, dass die Pflege immer noch in vielen Fällen menschenunwürdig ist, dass in manchen Branchen immer noch in unanständiger Weise auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten gewirtschaftet wird usw. – all das ist nicht einer mangelnden Digitalisierung geschuldet, sondern handfesten Interessenlagen.
Der frühere IQWIG-Chef Jürgen Windeler hat dazu jetzt im „Observer Gesundheit“ eine bitterböse Polemik geschrieben: „Digitalistan oder der Tanz um das binäre Kalb“. Der Artikel ist frei zugänglich.
Unter anderem fragt Windeler, ob man wirklich glaube, dass ausgerechnet die Pharmaindustrie „gemeinwohlorientierte Forschung“ im Sinn habe, wenn sie Zugang zu möglichst vielen Daten haben will. Hier gibt es in der Tat eine seltsame Unwucht bei den neuen Datenzugangsrechten. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz macht den Weg frei dafür, dass die Industrie die Krankenkassendaten nutzen kann. Karl Lauterbach hatte bereits früh erklärt, dass er damit den Pharmastandort stärken will. Die Gemeinwohlorientierung besteht hier somit zu einem guten Teil aus Wirtschaftsförderung.
Zugleich kommen staatliche Behörden, die Gesundheitsdaten für Planungszwecke benötigen, nicht einmal ohne Weiteres an staatliche Gesundheitsstatistiken heran, zumindest nicht in feiner Differenzierung. Das Bundesstatistikgesetz sieht in § 16 (4) dergleichen nur für die „obersten Gesundheitsbehörden“ vor, also die Ministerien. Noch schlimmer: Gesundheitsämter in Deutschland leiten die Todesbescheinigungen ihres Zuständigkeitsbereichs an die Statistischen Landesämter weiter, damit die amtliche Todesursachenstatistik erstellt werden kann. Die ICD-codierten Sterbefälle können die Gesundheitsämter aber nicht wieder zurückbekommen: sie sind zu Statistikdaten geworden und dafür gilt ein datenschutzrechtliches „Rückspielverbot“. Um solche Probleme kümmert sich Karl Lauterbach allerdings nicht. Vermutlich muss aus seiner Sicht der Gesundheitsbehörden-Standort nicht gestärkt werden. Ob sein „BIPAM“ je Realität wird, ist ja auch zunehmend fraglich.
Ein schönes Beispiel für gedankenlose Digitalisierungseuphorie hat Karl Lauterbach vorgestern bei der DMEA, einer Messe der E-Health-Branche, geliefert. Lauterbach möchte Deutschland zum „Vorreiter in der Digitalmedizin“ machen, das ist sicher einfacher als zum Vorreiter in der Pflegequalität, und verwies dabei auf die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz:
„‘Digitalisierung und KI wird die Medizin dahingehend verändern, dass wir Krankheiten sehr viel früher in ihrer Entstehung beobachten können‘, so Lauterbach. Das könne man zwar jetzt schon. So ließe sich etwa mit bestimmten Blutuntersuchungen bei der alzheimerschen Demenz bis zu 25 Jahre vor Ausbruch der Erkrankung feststellen, wer wahrscheinlich diese Krankheit entwickeln werde. ‚Aber wir werden bei dieser Vorhersage immer präziser und schneller werden.‘ Dank KI werde sowohl die Früherkennung als auch die Risikovorhersage immer besser“
Wer bitte braucht noch früher eine Demenzdiagnose, wenn sich die Krankheit nicht behandeln lässt? Welches Problem wird damit gelöst? Ob Lauterbach je von den Screening-Kriterien von Wilson & Jungner gehört hat? Hat er natürlich, aber Diagnostika sind eben auch lohnende Produkte für die Pharmaindustrie.
Nach der Genforschung, die seinerzeit auch schon all unsere Probleme lösen sollte, gefolgt von der Hirnforschung, die von ähnlichen Versprechen begleitet war, wird uns jetzt also gesagt, die Digitalisierung führe ins Paradies. Solche Realitätsverkennungen werden im ICD eigentlich im Kapitel V – Psychische und Verhaltensstörungen – codiert.
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