Die geleakten RKI-Protokolle haben in manchen Kreisen wieder Rachegelüste angestachelt. Nicht wenige haben sich durch die Corona-Maßnahmen ungerecht behandelt gefühlt und wollen irgendeine Art von Genugtuung. Auch diese Bestrebungen laufen unter dem Etikett „Aufarbeitung“. Für die stattfindenden Aufarbeitungen, etwa durch die Wissenschaft, die Gerichte oder den Bundesrechnungshof, haben diese Leute dagegen oft keinen Sinn.
In der Politik und den Medien finden auch diese „Aufarbeiter“ durchaus immer wieder Unterstützung, z.B. in der WELT, bei Wolfgang Kubicki, bei Hubert Aiwanger und seinen Sommerloch-Vertretern und selbst beim Bundespräsidenten.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) will Corona jetzt mit der AfD „aufarbeiten“. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland zitiert dazu den neu gewählten Europa-Abgeordneten des BSW, Friedrich Pürner:
„‘Wir hoffen, dass möglichst viele aus anderen Fraktionen, und dazu gehört auch die AfD, diesem Anliegen zustimmen.‘ Die Aufarbeitung sei ‚eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe‘ und müsse ‚über Parteigrenzen hinweg angepackt‘ werden. Dazu gehöre auch die AfD.“
Kann man Corona wirklich mit der AfD „aufarbeiten“? Mit einer Partei, die gesellschaftlich gerade nicht zusammenführen, sondern spalten will? Die Menschen mit Behinderungen diskriminiert und ausgrenzen will? Die mit einer “erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ den „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte mit 6 Mio. ermordeten Juden und zig Millionen Kriegstoten vergessen machen will? Die wirklich von einem Bevölkerungsaustausch – in Form massenhafter „Remigration“ – träumt, mit „wohltemperierten Grausamkeiten“, „auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen“?
Ich glaube, das geht nicht. Das BSW will sich dem Thema mit einem eigenem Expertenrat nähern. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland zufolge arbeiten darin neben Pürner der Internist Matthias Schrappe mit, der Astrophysiker Bernhard Müller, der Politik- und Datenwissenschaftler Simon Hegelich und der Lungenarzt Thomas Voshaar. Kompetente Frauen hat man nicht gefunden? Alle Beteiligten sind als Coronakritiker bekannt, einseitig orientiert, manchmal mit überzogener Kritik, aber nicht abgedreht wie Homburg, Bhakdi oder Wodarg.
Man kann diesem Expertenrat nicht gut Parteilichkeit vorwerfen. Es ist ja der Expertenrat einer Partei. Aber was wird man an konstruktiven Vorschlägen aus diesem Gremium erwarten können? Man mag dagegen einwenden, dass „der Staat“ nicht gut sein eigenes Handeln in der Coronakrise aufarbeiten kann. Wenn man es zu zentralistisch anlegt, vermutlich nicht. Aber verteilt auf viele Schultern – siehe oben, Wissenschaft, Gerichte, Rechnungshöfe usw. – scheint es mir die einzige Option zu sein. Mag sein, dass es in dem einen oder anderen Fall wirklich nicht absolut „neutral“ zugeht, wo Menschen am Werk sind, menschelt es, bringen sie ihre Einstellungen und Interessen mit. Dem muss man dann, so weit es geht, mit Verfahrensregeln begegnen, die eine möglichst neutrale Arbeit fördern. Mehr geht nicht. Die absolute Wahrheit hat auf Erden keinen Stellvertreter. Erst recht keinen Führer.
Ob Untersuchungsausschüsse, die ja dezidiert parteipolitisch arbeiten, Enquete-Kommissionen oder Bürgerräte einen Mehrwert bringen, kann man gerne diskutieren. Wenn es hilft, gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden und nicht nur Abrechnungsphantasien zu bedienen („ich will Handschellen klicken hören“ – Peter Hahne), wenn auch das Querdenken kritisch reflektiert würde, das Verhältnis von Evidenzbasierung und Vorsorgeprinzip überdacht würde, gerne auch die Arbeitsweise von Expertengremien und Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, wenn vielleicht sogar für das geplante BIPAM etwas dabei herauskommt, oder ein wenig Nachdenken über die Rolle des Kapitalismus bei alldem befördert wird, warum nicht. Man wird sich aber auch hier um möglichst gute Verfahrensregeln kümmern müssen, auch in solchen Gremien sind Menschen aktiv, auch solche Gremien sind nicht der „Mund der Wahrheit“. Und die AfD schon gar nicht.
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