Vor drei Jahren hatte ich schon einmal einen persönlichen Rückblick auf die Coronakrise online gestellt, damals in der Hoffnung, dass es bald ins normale Leben zurückgehen könnte – ein Irrtum.
Inzwischen ist die Coronakrise als pandemisches Geschehen wirklich vorbei. Für viele Menschen, die an Post-Covid oder auch an Post-Vac leiden, die wirtschaftlich unter die Räder geraten sind, oder familiär, ist Corona natürlich nicht vorbei. Auch die wissenschaftliche und juristische Aufarbeitung des Themas geht weiter, ebenso wie derzeit wieder viel über eine gesellschaftliche oder politische Aufarbeitung diskutiert wird.
Ich versuche noch einmal eine Bilanz meiner persönlichen Wahrnehmung der Dinge, im Wesentlichen anhand der gleichen Fragen wie 2021:
War SARS-CoV-2 eine ernsthafte Gefahr?
Ja.
War Deutschland gut genug vorbereitet?
Wie schon 2021 gesagt: Weder wissenschaftlich noch von der Infrastruktur und vom Krisenmanagement her. Pandemiepläne scheinen nur bedingt praxistauglich zu sein.
Hat die Politik in Deutschland gut reagiert?
Am Anfang und im Herbst 2020 zu zögerlich, sie hätte die Pandemiepläne ernster nehmen sollen. Insgesamt mal gut, mal weniger gut. Das gälte es aufzuarbeiten.
War Corona eine größere Gefahr als die Influenzawellen der letzten Jahrzehnte?
Ja, allein von den Sterbefällen her.
Sind die Folgen der Krise inzwischen überschaubar?
Teils-teils. Vor allem bei Beeinträchtigungen im psychosozialen Bereich gibt es nach wie vor neue Befunde und wie es mit der Polarisierung im Meinungsspektrum weitergeht, ist auch offen.
War es eine Jahrhundertkrise?
Ja.
Waren alle Maßnahmen wirksam?
Ziemlich sicher nicht.
War das Gesamtbündel an Maßnahmen wirksam?
Ja.
Ist es gelungen, die besonders vulnerablen Personen, z.B. in den Heimen, zu schützen?
Nicht gut genug.
Wie ist der Beitrag der Impfung zur Bekämpfung der Krise einzuordnen?
Enorm wichtig. Über Nutzen und Risiken der Impfung hätte man im politischen Raum parallel zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen anders sprechen sollen, weniger schwarz-weiß.
Gab es unverhältnismäßige Einschränkungen der Freiheiten?
Ja, die Gerichte haben das immer wieder korrigiert.
Hat man die Nebenwirkungen der Maßnahmen insgesamt unterschätzt?
Ja.
Hat der gesellschaftliche Zusammenhalt gelitten?
Ja, aber er war schon vorher fragil. Die Coronakrise war ein Katalysator vorhandener Risse in der Gesellschaft. Wichtig wäre, wie es weitergehen kann.
Hat die Regierung bei uns die Maßnahmen für eine hidden agenda der Entmündigung genutzt?
Nein, auch wenn mit Freiheitsrechten manchmal recht leichtfertig umgegangen wurde, manche Politiker sich unter dem Erwartungsdruck der Bevölkerung profilieren wollten und mehr demokratischer Diskurs wünschenswert gewesen wäre.
Wurden kritische Meinungen unterdrückt?
Nicht wirklich, trotz eines Mainstreamings der veröffentlichten Meinung.
Muss die Wissenschaftskommunikation besser werden?
Ja, und zwar auf allen Seiten, auch was die Erwartungen an die Wissenschaft angeht.
Hat die Politik wissenschaftliche Bewertungen ignoriert?
Ja, bei Corona nicht anders als sonst immer wieder mal auch. Die Gründe sind vielfältig und ob bzw. welche Grundsatzentscheidungen datengestützt anders hätten ausfallen müssen, ist im Einzelfall zu prüfen – z.B. in einer Enquete-Kommission.
Haben Corona-Politik-Kritiker wissenschaftliche Bewertungen ignoriert?
Manche von ihnen sind unfehlbar.
Haben die Querdenker mit ihren Fragen eine nützliche Funktion erfüllt?
Eher nicht. Vielleicht haben sie die Toleranz des Systems getestet, aber im Wesentlichen haben sie die seriöse Kritik belastet und zu Abgrenzungsbemühungen gezwungen. Eventuell kann die Erfahrung mit den Querdenkern zum Nachdenken darüber beitragen, wie man mit extrem eigensinnigen Meinungen umgehen und Radikalisierungsentwicklungen verhindern könnte.
War das Gesamtbündel an Maßnahmen angemessen?
Eine schwierige Frage, vielleicht so pauschal unbeantwortbar.
Hätte es zu den einzelnen Maßnahmen jeweils evidenzbasierte gute Alternativen gegeben?
Vieles musste ohne Evidenz nach dem Vorsorgeprinzip entschieden werden. Für manches gab es später Evidenz, für manches bis heute nicht. Vergessen wird oft, dass sich die Evidenzfrage nicht nur für das Handeln stellt, sondern auch für die Legitimation, nichts zu tun.
Hat es Schweden besser gemacht?
Am Anfang nicht, später vielleicht, im Zusammenspiel von Politik und Gesellschaft.
Gibt es Länder, die es besser oder schlechter gemacht haben?
Ziemlich sicher, eine Frage an die international vergleichende Forschung.
Hat sich die internationale Zusammenarbeit bewährt?
In vielerlei Hinsicht nicht. Vor allem der Umgang mit Afrika war immer wieder skandalös.
Sind die politischen Konsequenzen aus der Krise identifiziert und erkennbar in der Umsetzung?
Partiell. Ich bin z.B. gespannt auf das BIPAM, oder falls es scheitert, auf die Alternative.
Braucht es eine „Aufarbeitung“?
Sie findet in vielen Bereichen statt, wissenschaftlich, juristisch, politisch. Ob es eine Art „Wir schauen alles an“-Aufarbeitung geben kann, wie sie zu organisieren wäre und ob danach nicht genauso viel Streit herrscht wie jetzt auch, weiß ich nicht.
Werden wir uns „viel zu verzeihen haben“ (Spahn)?
Bisher dachte ich, nein, der Beichtstuhl ist kein politisches Instrument, aber vielleicht hat Spahn mit dem Satz irgendwie doch recht. Die Gesellschaft scheint so etwas zu brauchen.
Müssen „Handschellen klicken“?
Die Folgen von strafrechtlichen Verfehlungen, z.B. bei betrügerischen Maskengeschäften oder falschen Attesten, entscheiden die Gerichte. Die Abrechnungsphantasien radikaler Querdenker wiederum sind zivilgesellschaftlich zu bewältigen.
Wird die nächste Krise weniger polarisierend verlaufen?
Eher nicht. Alles, was Identitäten herausfordert, ob es große oder kleine Themen sind, polarisiert: siehe Ostverträge, § 218, Nichtraucherschutz, Bayern München, Gendersternchen.
Seine eigene Meinung nachdrücklich zu vertreten, ist einerseits ein konstitutives Element der deliberativen Demokratie, des Verhandelns von Interessen, anderseits führt Rechthaberei leicht zur Verweigerung von Verständigung und Akzeptanz von Kompromissen, dem Anliegen der deliberativen Demokratie zuwiderlaufend. Ein unvermeidlicher Balanceakt. Alternative Fakten erschweren dabei die Verständigung, saubere Fakten alleine garantieren sie noch nicht. Das wird immer so sein.
Steht in den Blogbeiträgen hier viel Murks zum Thema Corona?
Ich hoffe nicht. Wenn ich alte Blogbeiträge lese, steht da vieles, was man wieder so schreiben könnte. Aber manches hat sich auch als falsch erwiesen. Beispielsweise hatte ich gedacht, die Pandemie ist viel schneller vorbei, dass es so gut wie keine Sterbefälle infolge des Impfens geben wird (auch wenn das außerhalb des Querdenkeruniversums seltene Ereignisse geblieben sind), auch bei der Mutationsfreudigkeit des Virus lag ich falsch, ebenso hatte ich das Ausmaß der psychosozialen Folgen für Kinder und Jugendliche lange nicht wirklich verstanden. Beim nächsten Mal irre ich mich hoffentlich an anderen Stellen, oder an den gleichen, aber klüger.
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