Etwa 10.000 Suizide jährlich sind in Deutschland in der Todesursachenstatistik dokumentiert. Hinzu kommt eine sehr viel größere Zahl an Suizidversuchen. Jeder Suizid und jeder Suizidversuch betrifft auch das familiäre und soziale Umfeld, Fachleute gehen von mehr als 100.000 indirekt Betroffenen allein bei den Suiziden aus. Jährlich.

Ein erheblicher Teil der Suizide und Suizidversuche wäre vermeidbar. Daher hat der Bundestag im Juli 2023 fraktionsübergreifend die Regierung beauftragt, ein Suizidpräventionskonzept und darauf aufbauend einen Gesetzentwurf vorzulegen. Beides hat das Gesundheitsministerium erst mit erheblichem zeitlichen Verzug getan. Der Gesetzentwurf, der eigentlich am 1. Juli vorgelegt werden sollte, kam Ende November.

Zum Referentenentwurf des Gesetzes gab es zahlreiche Stellungnahmen von Verbänden und am 18. Dezember hat das Kabinett den Gesetzentwurf beschlossen. Gesundheitsminister Lauterbach dazu:

„10.000 Menschen nehmen sich jedes Jahr bei uns das Leben. Das können wir nicht weiter hinnehmen.“

Der Gesetzentwurf enthält durchaus eine Reihe guter Ansätze, aber die Finanzierung ist bestenfalls symbolischer Natur und dementsprechend schmalbrüstig fällt das Maßnahmenbündel aus. Insofern ist Lauterbachs Statement ein typisches Politiker-Lippenbekenntnis. Er nimmt es weiter hin, dass so viele Menschen sterben, sonst hätte er mehr Geld in die Hand nehmen müssen.

Seitens der Politik wird immer wieder beklagt, es würden Daten fehlen, um Prävention und Versorgung besser bedarfsgerechter auszurichten. Die Suizide sind ein weiteres Beispiel dafür, dass wir oft genug ausreichende Daten haben, aber trotzdem nicht den Daten entsprechend handeln.

Inzwischen ist der Gesetzentwurf auch im Gesundheitsausschuss des Bundesrats beraten worden, am 30.1.2025 hat er seine Stellungnahme für das Plenum des Bundesrats. abgegeben. Diese Stellungnahme ist ein weiteres Ärgernis. Auch den Ländern ist die Suizidprävention kein Geld wert. Es heißt dort:

“Im Übrigen wird gebeten, im weiteren Gesetzgebungsverfahren dafür zu sorgen, dass der Gesetzentwurf für die Länder kostenneutral umgesetzt werden kann.”

In der Migrationspolitik haben die furchtbaren Anschläge in Magdeburg und Aschaffenburg die Republik beben lassen. Dagegen sind offensichtlich bei den Suiziden auch 10.000 Tote im Jahr zu wenig, um die Politik aus dem Ignoranzmodus zu holen.

Am 14. Februar will der Bundesrat über die Stellungnahme seines Gesundheitsausschusses entscheiden. Es wäre zu wünschen, wenn er dieser Vorlage nicht folgen würde und die Länder in der Suizidprävention etwas mutiger wären – auch wenn das weitere Schicksal des Gesetzes durch die Neuwahl des Bundestags am 23. Februar ohnehin offen ist. Es geht auch um das Signal, dass nach dem Bund nicht auch noch die Länder allen Bekundungen, dass man so viele Suizide nicht mehr hinnehmen könne, keine entsprechenden Taten folgen lassen wollen.

Kommentare (11)

  1. #1 Richard
    4. Februar 2025

    Es ist gut, dass Sie dieses Thema aufgreifen, zumal es in der Politik (und den Medien) offenbar nur noch ein anderes Thema gibt..
    In der aktuellen ZEIT ist ein Interview (online hinter der paywall) mit Frau Prof. Lewitzka, Deutschlands erste Professorin für die Erforschung von Suiziden und deren Prävention. Am wirkungsvollsten sei es, den Zugang zu Suizidmethoden zu erschweren, das sei nachgewiesen. Das bedeute, den Besitz von Waffen und Medikamenten weiter einzuschränken und hohe Gebäude oder Brücken zu sichern, an denen es häufig zu Todesfällen kommt.
    Dafür müssen aber finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, um z.B. an Hotspots wie bestimmten Brücken Sicherungsmaßnahmen wie Erhöhung der Geländer oder die Anbringung von Netzen umzusetzen. Ich habe mich selbst an die zuständige Stelle gewandt, die mir geantwortet hat, dass vor 2029 keine Möglichkeit bestünde, auch wegen fehlender Finanzierbarkeit. Ich hoffe daher, dass das Gesetz (schnellere) Taten folgen lässt. Wait and see…

    • #2 Joseph Kuhn
      4. Februar 2025

      @ Richard:

      “vor 2029 keine Möglichkeit bestünde, auch wegen fehlender Finanzierbarkeit”

      Das Problem besteht darin, dass hier schon ein paar Millionen für den Anfang weiterhelfen würden. Die Politik kann sich aber nicht differenziert mit so kleinen Summen beschäftigen, sie wird erst bei Milliardenbedarfen wach. (Sicherheitshalber: Das ist Sarkasmus)

  2. #3 Richard
    4. Februar 2025

    Nachtrag: Interviews mit Frau Lewitzka gibt es online auch in anderen Medien, ohne paywall z.B.
    https://www.n-tv.de/wissen/Forscherin-Viele-Suizide-liessen-sich-verhindern-article25529660.html

  3. #4 Holger
    4. Februar 2025

    Vorsicht: das darf nicht eindeutig “schwarz-weiss” betrachtet werden.
    denn: Verfassungsgericht hat sogar gemahnt (oder war das anderes Urteil?) dass eine eindeutige Gesetzgebung zu aktiver/passiver Sterbehille kommen sollte.
    .
    und: das Recht auf Leben beinhalet immer auch das Recht darauf dieses zu beenden. Es darf nie eine Pflicht zu qualvollem Leben geben.
    .
    ich selbst würde auch immer Selbstmord vorziehen bei der Wahl elend und qualvoll zu vegetieren mit voller Gerätemedizin. Zumindest solang ich dies selbst durchführen kann weil aktive Sterbehilfe illegal ist.

    • #5 Joseph Kuhn
      4. Februar 2025

      @ Holger:

      “Verfassungsgericht … Es darf nie eine Pflicht zu qualvollem Leben geben.”

      Keine Frage. Aber man sollte das Thema nicht nur nicht “schwarz-weiß” betrachten, sondern auch Sachverhalte auseinanderhalten, die unmmittelbar nichts miteinander zu tun haben. Hier geht es nicht um das selbstbestimmte Sterben, sondern um Defizite der Suizidprävention.

      “Selbstmord vorziehen”

      Den moralisch aufgeladenen Begriff “Selbstmord” sollte man vermeiden.

      “weil aktive Sterbehilfe illegal ist”

      Der Begriff ist unscharf. Der assistierte Suizid ist nicht illegal, das hat das Bundesverfassungsgericht ja noch einmal konkreter ausgeführt. Illegal ist das Töten auf Verlangen.

  4. #6 Robert
    4. Februar 2025

    Ich saß selbst schon in einem Zug, der einen Menschen überfahren hat. Man kann kaum beschreiben, wie beklemmend es ist, wenn man es rumpeln hört und dann erfährt, was gerade passiert ist. Ich kann nur hoffen, dass der Lokführer darüber hinweg gekommen ist.

    Nur die physische Möglichkeit zum Suizid zu bekämpfen kommt mir etwas zu kurz gegriffen vor.

    Im Außenbereich Münchens gibt es zahlreiche Stationen, wo die Regionalbahnen mit hohem Tempo direkt am Bahnsteig vorbeidonnern. Dort kommt es wie in meinem Fall immer wieder zu Suiziden und ich wüsste auch nicht, wie man eine solche Anlage absichern könnte.

  5. #7 Staphylococcus rex
    4. Februar 2025

    Suizid ist ein Endergebnis, welches verschiedene Ursachen haben kann. Es wäre hilfreich in der Diskussion zu präzisieren, welche Form des Suizids man verhindern möchte.

    Beim appellativen Suizidversuch ist der Suizid eher als “Betriebsunfall” zu werten. Eine andere Form liegt vor beim selbstgewählten Freitod bei schwerer Krankheit. Eine weitere Variante ist die (ggf. selbstverschuldete) Lebenskrise, wo der Suizid als einziger Ausweg angesehen wird und wo ein Risiko besteht, dass der Suizid mit einem Amoklauf verknüpft wird.

    In meinem beruflichen Umfeld habe ich vor etwa 10 Jahren den Suizid eines Kollegen miterlebt, absolut sinnlos (eine eingebildete schwere Krankheit, wie sich nachträglich herausstellte), vorher null Warnhinweise, der Kollege war von einem Tag auf den anderen nicht mehr da. Diese Form des Suizids zu verhindern dürfte sehr schwer sein, wenn es vorher keine klaren Warnhinweise gibt.

    Niederschwellige Gesprächsangebote sind hilfreich, erreichen aber nur die Personen, die um Hilfe anfragen.

  6. #8 Alfred
    4. Februar 2025

    Die mangelnde Unterscheidung zwischen freiverantwortlichen und unfreien Suiziden wurde schon angesprochen. Das Problem ist aber noch größer: Mir scheint, diejenigen, die Suizide prinzipiell ablehnen und auch freiverantwortliche ärztlich assistierte Suizide verhindern möchten – und darunter fallen auch manche Psychiater und Psychotherapeuten -, wollen die Hürden für die Freiverantwortlichkeit so hoch legen, dass in der Praxis kein Mensch mehr als freiverantwortlich gelten kann. Damit wird zur Streitfrage, was Freiverantwortlichkeit ist und wie sie gemessen werden kann und das Grundrecht auf Suizid wird wieder entleert.

    • #9 Joseph Kuhn
      4. Februar 2025

      @ Alfred:

      “Mir scheint, diejenigen, die Suizide prinzipiell ablehnen und auch freiverantwortliche ärztlich assistierte Suizide verhindern möchten (…)”

      Diejenigen, die z.B. das Leben als Geschenk Gottes betrachten, über das der Mensch nicht verfügen darf, werden das sicher so sehen. Lektüreempfehlung dazu: Ferdinand von Schirach “Gott”. In Form eines Theaterstücks werden dort die Streitpunkte in Szene gesetzt.

      Zumindest bei religiös motivierten Menschen wird aber damit gerade nicht “zur Streitfrage, was Freiverantwortlichkeit ist und wie sie gemessen werden kann”, weil diese Leute die Freiverantwortlichkeit als relevanten Gesichtspunkt beim Suizid ja a priori ablehnen, für sie stellt sich die Frage also gar nicht. Gleiches gilt, weil Sie vom “ärztlichen assistierten Suizid” sprechen, für Menschen, die die ärztliche Rolle in der unbedingten Erhaltung des Lebens sehen. Da ist die Legitimität der Mitwirkung des Arztes/der Ärztin a priori verneint.

      Ansonsten ist es eine schwierige Diskussion, weil die Frage, was eine “autonome Selbstbestimmnung” ausmacht, nicht einfach zu beantworten ist. Die Diskussion wird geführt, aber sie ist hier nicht Thema und wie man sich dazu auch immer positioniert, es würde die Sparsamkeit von Bund und Ländern bei der Suizidprävention nicht besser machen.

      Es gibt übrigens einige Parallelen zur Diskussion um die akzeptierende Drogenarbeit, auch hier stellt sich die Frage, wie in den unterschiedlichen Einzelfällen subjektive Entscheidungen für den Drogenkonsum zu werten sind.

      Und was die ärztliche Rolle jenseits einer unbedingten Erhaltung des Lebens angeht, gibt es gewisse Parallelen zum Schwangerschaftsabbruch und letztlich sogar zur Triage-Diskussion.

      Aber wie gesagt, um all das geht es hier nicht.

  7. #10 RGS
    4. Februar 2025

    Es geht doch um Fälle wie diese, dass sich von 48 Polizisten 30 mit der eigenen Dienstwaffe töten. Hätten sie die Waffe nicht greifbar im Moment des Handlungsablaufs vor dem Suizid, würden sie vielleicht noch leben.

    https://www.sueddeutsche.de/bayern/suizide-polizei-bayern-abfrage-innenministerium-lux.UKobetkn6TbvHs3v9Y3LMd?reduced=true

    Ich habe auch einen Polizisten im weiteren Verwandtenkreis, der sich mit der eigenen Dienstwaffe erschossen hat.

  8. #11 RGS
    5. Februar 2025

    @Robert #6
    Sie schrieben:
    “Ich kann nur hoffen, dass der Lokführer darüber hinweg gekommen ist.

    Nur die physische Möglichkeit zum Suizid zu bekämpfen kommt mir etwas zu kurz gegriffen vor.

    Im Außenbereich Münchens gibt es zahlreiche Stationen, wo die Regionalbahnen mit hohem Tempo direkt am Bahnsteig vorbeidonnern. Dort kommt es wie in meinem Fall immer wieder zu Suiziden und ich wüsste auch nicht, wie man eine solche Anlage absichern könnte.”

    Dazu folgendes:
    Es gibt Hilfen beim Bahnsozialwerk für Lokführer, die Menschen überfahren haben. Hier ein Interview dazu:
    https://www.stiftungsfamilie.de/ueber-uns/news-und-presse/news/2020/11/betreuungslokfuhrerin

    Bahnsteige lassen sich sichern. Mein Vater war Bahnhofsvorsteher in jungen Jahren vor 1960. Damals gab es am Bahnhof einen Zaun und die Fahrgäste warteten dahinter. Sie wurden erst vom Bahnhofsvorsteher auf den Bahnsteig gelassen, wenn der Zug eingefahren ist. Bei durchfahrenden Zügen war keiner auf dem Bahnsteig. Aus Sicherheitsgründen.
    Bei dieser Gelegenheit hat übrigens meine Mutter den feschen Bahnhofsvorsteher mit der roten Mütze zum ersten mal entdeckt.

    In London seit mindestens 15 Jahren und seit einiger Zeit auch in Paris, werden auf den neuen U-Bahnsteigen über die ganze Länge Glaswände vor die Gleise gebaut mit Türen an den Stellen, wo dann die Türen der Züge sind, wenn die U-Bahn hält. Da kann dann keiner mehr auf die Gleise fallen.
    Im übrigen kommt man in UK und auch in der Pariser U-Bahn ohne Fahrkarte an vielen Stationen nicht zu den Gleisen und Zügen.