Schokolade macht Senioren-Hirne jung!
Die US-amerikanische Presse bejubelt mal wieder ein spektakuläres Versuchsergebnis aus der Rubrik “Schoko-Forschung”.
Schokolade besteht im Wesentlichen aus Fett, Zucker und Kakao. Kakao enthält Flavonoide – sekundäre Pflanzenstoffe, die sich chemisch vom Grundgerüst des Flavan (2-Phenylchroman) ableiten und aus zwei aromatischen Ringen bestehen, die durch einen Tetrahydropyran-Ring verbunden sind. Flavonoide sind Bestandteile einer ganzen Reihe von Nahrungsmitteln, die gern als „Superfood“ bezeichnet werden. So genanntes „Superfood“ wie Schokolode oder grüner Tee soll angeblich besonders gesund sein und die Hirnleistung steigern.
Flavonoide können offenbar wirklich das Erinnerungsvermögen steigern. Jedenfalls bei Sumpfdeckelschnecken.
Das ist tatsächlich als sauberer Laborversuch nachgewiesen: Das Flavonoid Epicatechin wirkt offenbar direkt auf die Neuronen des Erinnerungsvermögens der Schnecken. Eine methodisch absolut sauber geplante und durchgeführte Studie, die nur eine einzige bioaktive Substanz untersucht. Die klare Fragestellung ermöglicht auch ein klares Ergebnis. Mehr dazu gibt es in “Schokolade macht Schnecken schlauer”.
Die neueste Schoko-Forschung von Adam Brickman et al verspricht wieder Wundersames: 37 Patienten zwischen 50 und 69 Jahren wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Gruppe erhielt über 3 Monate ein Getränk mit 900 mg Flavanol. Die andere Gruppe erhielt ein Getränk mit 10 mg Flavonol. Nach drei Monaten gab es einen Erinnerungstest und eine Hirnuntersuchung. Außerdem gab es noch ein Sportprogramm.
Die Mediziner hatten sich bei ihrer Studie auf die Untersuchung des Gyrus dentatus konzentriert, eines Teiles des Hippocampus. Der Gyrus dentatus soll das Hirnareal sein, in dem das nachlassende Erinnerungsvermögen im Alterunsgprozess sichtbar wird. Andere neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer betreffen andere Areale des Hippocampus.
Mit einer neuartigen Methode der Magnetresonanz-Tomografie konnten die Wissenschaftler nun erstmals dreidimensionale Bilder der Aktivität und Struktur des Gyrus dentatutus aufnehmen, bisher konnten immer nur einzelne Schichten betrachtet werden. Außerdem hatten sie einen klassischen neurobiologischen Tests zum Überprüfen des Erinnerunsgvermögens modifiziert.
Die Flüssigkeit mit dem sehr hohen Anteil von Flavonolen soll also dem altersbedingte Erinnerungsverlust entgegengewirkt haben. Der Nachweis bestand in der erhöhten Durchblutung dieser spezifischen Hirnregion. Neben diesen Messungen mussten die Teilnehmer auch noch einen Erinnerungstest absolvieren.
Das verblüffende Ergebnis nach nur drei Monaten: War das Gedächtnis eines Probanden vorher auf dem Status eines 60-Jährigen, so entsprach es nachher dem eines 30- bis 40-Jährigen.
Sehr verblüffend.
Für mein Bauchgefühl etwas zu verbüffend.
Meine Suche nach der Publikation endete an der Paywall, ich versuche, das Manuskript anderweitig zu besorgen.
War es wirklich das Flavonoin, das die Hirnverjüngung auslöste?
Oder war es vielleicht einfach die zusätzliche Flüssigkeit?
Und bei wievielen Probanden war dieses sehr positive Ergebnis beobachtet worden?
Außerdem ist es störend, wenn gleichzeitig auch noch ein Sportprogramm getestet wird. So können sich mehrere Wirkungen überlagern. Wissenschaftlich korrekt wäre gewesen, dazu ein zweites Experiment durchzuführen.
Dazu kommt noch, dass die Testgruppe mit 37 Teilnehmern sehr klein war. Und die Altersspanne von 50 bis 69 ist mir bei dieser Fragestellung deutlich zu breit. Die Spanne des Erinnerunsgvermögens ist da von Natur aus viel zu groß. 65 bis 69 oder 65 bis 75 wäre besser gewesen.
Erst die Original-Publikation wird etwas mehr Aufschluss geben.
So lange gestatte ich mir, das Ergebnis als zu passend und darum erst einmal wenig glaubwürdig zu betrachten.
Übrigens: Das Getränk war kein normaler Kakao, sondern hatte einen wesentlichen höheren Flavonoid-Gehalt.
Das Getränk war eine spezielle Zubereitung des Schokoriegel-Konzerns “Mars”, der natürlich auch einen Teil der Forschung zahlt.
Dieser Umstand ist nicht geeignet, den Forschungsergebnissen mehr Verläßlichkeit zu attestieren.
In den meisten Presseartikeln fehlt dieser Hinweis natürlich.
Selbst Bild der Wissenschaft hat die Pressemitteilung zu dieser und anderer Kakao-Studien kritiklos übernommen.
Warum bin ich so kritisch?
Ich habe in den letzten Jahren so einige medizinische “Studien” zur Wirkung von Schokolade auf menschliche Gehirne gelesen, allerdings habe ich keine gefunden, die wissenschaftlich überzeugend war. Zu kleine Versuchsgruppen, unklarer Versuchsaufbau, unklare und hanebüchen interpretierte Ergebnisse und mitunter eine Finanzierung über Schokoladenproduzenten lassen die wissenschaftlichen Studien schnell in die Fragwürdigkeit abgleiten. Die Presse ist selten in der Lage, die Studien als den Murks zu beurteilen, der sie sind. Eine lobenswerte Ausnahme ist Nina Weber von SPON, die bei einer besonders windigen Studie Gerd Antes vom deutschen Cochrane Zentrum interviewte, der zu einem vernichtenden Urteil kam: ”Das eigentliche Studienziel wurde vollkommen verfehlt, und an dieser Stelle hätte die Arbeit enden sollen”, sagt Gerd Antes, der sich am Deutschen Cochrane Zentrum mit dem Aufbau medizinischer Studien auseinandersetzt. Er bemängelt bereits die Zahl von nur 60 Probanden, mit der nur ein sehr großer Effekt statistisch sicher zu belegen sei, sowie fehlende Angaben, wie die Probanden in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. “Über meinen Schreibtisch wäre die Arbeit in der Form nicht gegangen”, sagt er.“
Die US-amerikanische Alzheimer-Association beurteilte oder vielmehr verurteilte die gleiche Studie ähnlich vernichtend (Mehr dazu lesen steht in puls.: “Schokoforschung im Sommerloch”).
https://puls.meertext.eu/schokoforschung-im-sommerloch-2-flavonoide-gegen-neurodegenerative-erkrankungen
Und das habe ich bis jetzt bei fast allen Studien zu diesem Thema erlebt.
Die Sumpfdeckelschnecken-Forschung war bisher das einzige methodisch saubere Experiment.
Warum so viel Schokoforschung?
“Superfood” wäre ein Geniestreich für die Nahrungsmittelindustrie: Solche supergesunden und supernützlichen Nahrungsmittel könnten natürlich zu einem ganz anderen Preis verkauft werden. Im Moment sitzt Schokolade als Dickmacher und Diabetes-Förderer auf der Strafbank der gesunden Ernährung. Mit dem Label “Superfood” würde Kakao als Sturmspitze im Kampf gegen Hirn-Degeneration aus Spielfeld zurückkehren.
Insgesamt stellt sich schon die Frage, warum so viele Mediziner, Chemiker, Pharmazeuten und andere Wissenschaftler an Schokolade forschen.
Dazu haben wir (in unserer universitären Arbeitsgruppe) folgende Arbeitshypothesen aufgestellt:
- Diese Forschungen entstehen in der Frühstücks- bzw. Mittagspause.
- Viele Wissenschaftler sind schwer schokoabhängig und schreiben dann auch über dieses Thema am liebsten.
- Die Forschungen werden von der Schoko-Industrie gesponsert – da gibt es finanziellen Benefit.
Was meinen Sie dazu?
Haben Sie weitere Vorschläge?
Falls Ihnen spontan kein Geistesblitz kommt: Vielleicht ist Ihr Kakao-Pegel zu niedrig. Trinken Sie einen Kakao oder essen Sie ein Stückchen Schokli – dann fällt Ihnen sicherlich schnell etwas dazu ein.
Kommentare (19)