In Nord- und Ostsee leben Schweinswale (Phocoena phocoena), kleine Zahnwale von bis zu 1,60 Meter Länge. Das leer gefischte Meer, die Fischernetze, die Meeresverschmutzung, der Schiffsverkehr und andere anthropogene Faktoren machen ihnen das Leben schwer. Trotzdem haben sie bis heute wacker durchgehalten.
Tote Schweinswale werden, vor allem in Deutschland und den Niederlanden, regelmäßig aufgesammelt und pathologisch untersucht. So gibt es einen ganz guten Überblick über mögliche Todesumstände und den gesundheitlichen Zustand der kleinen Wale.
Seit 2003 ist für die Nordsee-Wale eine neue Todesursache dazugekommen: Immer mehr der kleinen Meeressäuger zeigen deutliche Spuren eines gewaltsamen Todes – Zahn- und Krallenspuren, aufgerissene Kehlen und Seiten, vor allem bei jungen Walen in gutem Ernährungszustand.
Wer ist der große Räuber in der grauen Nordsee?
Kegelrobbe frisst Schweinswal? Zwei tote Wale und viele Fragen
Der belgische Wissenschaftler Jan Haelters und seine Kollegen hatten 2012 erstmals solche Verletzungen an zwei Schweinswalen detailliert beschrieben (Jan Haelters et al (2012): The Grey Seal (Halichoerus grypus) as a Predator of Harbour Porpoises (Phocoena phocoena)?)
Die beiden frischen Walkadaver zeigten deutliche Zahnspuren von Kegelrobben – die punktförmigen Wunden hatten den „richtigen“ Zahnabstand. Unter der Haut waren im Gewebe starke Einblutungen zu sehen, die nur an lebenden oder frisch getöteten Tiere entstehen.
Ganz klar: Diese Wale waren von Kegelrobben gebissen und angefressen worden! Die schweren Verletzungen und der starken Blutverlust hatten zum Tod der Wale geführt.
Haelters et al waren allerdings unsicher, ob es sich um eine Ausnahme handelte – schließlich war so etwas noch nie beschrieben worden.
Eine mögliche Erklärung wäre gewesen, dass die Robben einfach ihre Aggressionen an den kleinen Walen ausgelassen hatten. In schottischen Gewässern werden junge Schweinswale regelmäßig von erwachsenen Großen Tümmler-Männchen totgeschlagen, aber nicht gefressen.
Da beiden Walen große Stücke von Haut, Blubber und Muskulatur fehlten, sah es hier aber sehr deutlich danach aus, dass sie Nahrung und nicht Punching-Ball gewesen waren.
Kegelrobben durch DNA-Test überführt
Eine niederländische Publikation von Leopold et al bringt Licht in die Geschehnisse in der trüben Nordsee (Leopold, Mardik et al (2015) Exposing the grey seal as a major predator of harbour porpoises).
Zwischen 2003 und 2013 hatten die niederländischen Wal-Experten – Tierärzte und Biologen – insgesamt 1081 tote Kleinwale untersucht. 271 Tiere waren frisch genug, um eine makroskopische Untersuchungen der Wunden durchzuführen, bei denen der Verdacht bestand, dass sie von den großen Robben stammen könnten. Und bei 25 % davon konnten die Wissenschaftler klar nachweisen, dass es sich um Zahn- und Krallenspuren von Kegelrobben handelte!
Die pathologische Untersuchung von Meeressäugern ist oft sehr schwierig, da viele Tiere in stärker oder stark verwestem Zustand gefunden werden. Ein Kadaver kann, je nach Jahreszeit, bereits länger im Wasser treiben oder am Strand liegen. Meeressäuger verwesen extrem schnell, ihre dicke Speckschicht hält die Temperatur im Körperinnern hoch und beschleunigt den Fäulnisprozess enorm.
Dazu kommt, dass Wunden postmortal entstehen können, etwa durch das Rollen auf Steinen am Strand. Außerdem verändern sich Wunden postmortal oder die Epidermis löst sich ganz ab. Bei manchen Wal-Kadavern lässt sich nicht einmal mehr die Länge bestimmen.
Außerdem wird insgesamt ja auch nur ein Teil der verendeten Wale überhaupt am Strand angespült und gefunden, viele sinken weit vor der Küste auf den Meeresboden.
Die niederländischen Wal-Experten sind aufgrund der vorliegenden Daten über einen Zeitraum von 10 Jahren zu der Meinung gekommen, dass Kegelrobben mittlerweile einer der Haupt-Todesursachen für Schweinswale in der Nordsee sind.
Darum haben sie auch einen „decision tree“ (Entscheidungsbaum) zusammengestellt, damit auch andere Wissenschaftler künftig besser identifizieren können, ob ein Schweinswal einer Kegelrobben-Freßattacke zum Opfer gefallen ist.
Tatort Nordsee: Wie die Kegelrobbe als Täter überführt wird
Viele tote Schweinswale tragen äußerliche Wunden, davon können parallele tiefe Schnitte von Schiffspropellern und „Netzmarken“ – die tief eingeprägten Spuren von Fischernetzen – oft klar identifiziert werden. In den letzten 10 Jahren kamen neue Wunden dazu, die die Wissenschaftler vor ein Rätsel stellten: Parallele Kratzspuren von Krallen und Zahnspuren.
Manche Wale hatten klaffende Wunden im Hals- oder Kehlbereich, aus denen große Stücke von Haut, Blubber und Muskulatur herausgerissen waren. Manche Verletzungen waren so tief, dass Schädelknochen oder Rippen sichtbar wurden.
Andere Wale hatten am Kopf oder im Schwanzbereich tiefe parallele Kratzer.
Welches Tier kam hier als Räuber in Frage?
In der Wildtierbiologie kann die Frage nach dem Jäger oft mit DNA-Spuren geklärt werden, die der Jäger mit seinem Speichel in der Wunde hinterlässt. Ob das auch im Meer funktionieren würde?
In einigen Wunden waren tatsächlich Reste von Kegelrobben-DNA zu finden!
Die Pathologen haben die Verletzungsmuster, die wegen der DNA sicher von einer Robbe stammten, sorgfältig analysiert.
Grundsätzlich gibt es folgen Kegelrobben-Spuren am Wale:
- „Blubber-Defekt“
- Punktförmige Wunden am Schwanzstiel
- Punktförmige Wunden am Kopf
- Punktförmige Wunden an einem oder beiden Flippern (Brustflossen)
- Parallele Kratzer
Der „Blubber-Defekt“ ist die größte Wunde am Walkörper und auch die Todesursache.
Eine solche schwere Verletzung an der Kehle, am Bauch oder in der Seite wird als Kegelrobben-Fraß eingestuft, wenn mindestens 5 bis 10 Zentimeter Gewebe fehlen. Kleinere Verletzungen könnten auch von Seevögeln stammen und werden hier nicht berücksichtigt.
Die punktförmigen Verletzungen aus oft mehreren Reihen an Kopf, Flippern und Schwanzstiel sind Bißmarken – Robben haben ein Gebiss mit starken Eckzähnen, die restlichen Zähne haben Spitzen. Diese punktförmigen Wunden haben einen Abstand von 0,5 bis 2,0 Zentimeter.
Die Kratzspuren aus drei bis fünf parallelen Kratzern sind am ganzen Körper zu finden. Sie sind klar auf die Krallen der Robbe zurückzuführen. Die Vorderbeine der Robben sind zwar zu Brustflossen umgewandelt worden, haben aber nach wie vor fünf „Finger“ mit Krallen.
Wie kann eine Kegelrobbe einen Wal fangen?
Die Verletzungen der Wale lagen entweder im Kehl-Bereich, also bauchwärts, oder eher seitlich. Die Mageninhaltsanalysen ergaben: Die Wale mit seitlichen Wunden hatten Grundfische gefressen, hielten sich also am Meeresboden auf. Die Robben haben dann von der Seite her zugeschlagen. Wale, die pelagische Fische im Magen hatten, zeigten Wunden von unten – die Kegelrobben hatten von unten her angegriffen.
Wie die Robben nun die Wale verfolgen und letztendlich erlegen, ist bis jetzt nicht geklärt. Fakt ist aber: sie müssen sich sehr leise anschleichen und die Wale vollständig überraschen. Ihre bevorzugte beute sind noch nicht ganz erwachsene Schweinswale in sehr gutem Ernährungszustand.
Diese Tiere sind dann offensichtlich etwas weniger schnell als ihre schlankeren Artgenossen und bieten mit ihrer fetten Speckschicht die beste Energieressource für die Kegler.
Wie nun aber so eine Waljagd ganz genau abläuft, weiß bisher niemand.
Dieses noch recht neue Verhalten ist einfach von noch keinem Menschen beobachtet worden.
Dieses Video zeigt das Ergebnis der Jagd: Die Robbe frisst von dem an der Meeresoberfläche treibenden Wal.
Kegelrobben-Prädation: Todesursache mit steigender Tendenz
Leopold et al haben auf der Basis ihrer über 10 Jahre gesammelten Daten festgestellt, dass die Jagd der Kegelrobbe mittlerweile eine häufige Todesursache für die Schweinswale ist.
Bei 1081 untersuchten Walen konnten die Wissenschaftler bei 721 Tieren das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Robbenspuren klar nachweisen.
Insgesamt tragen von 721 Walkadavern 25 % die Spuren einer Kegelrobben-Attacke, unter allen gestrandeten Walen sind es immer noch über 17%.
Dazu kommt, dass ein Wal, der großflächige Verletzungen hat, die den Brust- oder Bauchraum aufgerissen haben, aufgrund des fehlenden Auftriebs der geschlossenen Leibeshöhle schnell zu Boden sinkt und dann auch nicht an den Strand gespült wird.
Der tatsächliche Prozentsatz des Kegelrobbenfraßes wird also noch höher liegen.
Die Rückkehr der großen Robbe in die südliche Nordsee und das Wattenmeer ist damit ein ernst zu nehmendes Problem für die kleinen einheimischen Wale.
Vom Publikumsliebling zum Problem“see“bär
Kegelrobben haben bis zum 15. Jahrhundert im Wattenmeer gelebt, dann waren sie ausgerottet. Seit den 70-er Jahren sind sie wieder in der südlichen Nordsee, auf der Helgoländer Außendüne ist seit 2001 wieder eine feste Population ansässig, hier werden auch regelmäßig Jungtiere geboren.
Naturschützer und Marine Säugetier-Fans sind über die Rückkehr der Tiere begeistert. Kegelrobben-Bullen werden immerhin über drei Meter lang, sie sind die mit Abstand größten „Raubtiere“ Deutschlands und beeindruckende Meeresbewohner. Dass sie im Winter ihre Jungen bekommen, die dementsprechend den typischen weißen „Baby-Robben-Pelz“, den Lanugo, haben, brachte ihnen noch mehr Sympathien ein.
Ich selbst habe im Dezember 2013/Januar 2014 mein erstes „Kegler-Kind“ auf Borkum getroffen – mitten auf dem Strand-Wanderweg. Als ich nähertrat, um mir endlich mal eine junge Robbe im Lanugo anzusehen, fauchte das Tierchen mich an. Ansonsten schien es sich im eiskalten Wind mit Schnee und Sand absolut wohlzufühlen.
Trotz ihrer Größe gehen Badegäste etwa auf der Helgoländer Außendüne mit ihnen gemeinsam schwimmen. Sicherlich ein großartiges Erlebnis, aber augrund des im Wasser sehr entspannten Verhaltens der Robben nicht wirklich gefährlich. Bisher hatten sie das friedliche Image übergroßer Seehunde. Schließlich begnügten sie sich mit Mahlzeiten aus Fischen, Krebsen und Kopffüßern, schnappten höchstens gelegentlich mal einen Seevogel.
Mit dieser scheinbaren Harmlosigkeit ist es nun vorbei.
Stattdessen bringen die großen Robben ernste Probleme: Naturschutz wird schwierig, wenn die geschützten Arten sich gegenseitig fressen. Und der Schweinswal genießt in europäischen Gewässern die allerhöchste Schutzkategorie.
Quellen:
Jan Haelters, Francis Kerckhof, Thierry Jauniaux and Steven Degraer: The Grey Seal (Halichoerus grypus) as a Predator of Harbour Porpoises (Phocoena phocoena)? Aquatic Mammals 2012, 38 (4), 343-353, DOI 10.1578/AM.38.4.2012.343
Leopold, Mardik et al: Exposing the grey seal as a major predator of harbour porpoises. Proc. Royal Soc. 2014
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