Durch meinen kurzen Post zum „Duell“ einer Seefeder gegen einen Roboterarm kam es, angeregt durch Rolak, Gedankenknick und andere Kommentatoren, mal wieder zu einer extrem interessanten Diskussion: Wie hat die Seefeder, eine Weichkorallen-Kolonie, den Roboter wahrgenommen? Hat sie ihn gesehen oder gefühlt? Hat sie die Erschütterung auf dem Sandgrund wahrgenommen? Welcher Teil der Kolonie hat die Annäherung des Roboterarms bemerkt und das Alarmsignal gegeben?
Fakt ist: Die Seefeder hat den ROV-Greifer wahrgenommen, als Gefahr eingeschätzt und den sofortigen Rückzug der ganzen Kolonie zarter, skelettloser Korallenpolypen in den Fuß veranlasst. Der Roboter, der die Seefeder pflücken sollte, ging leer aus.
Unsere Diskussion blieb natürlich ergebnislos, denn wir haben kein Vorstellungsvermögen, wie es sich anfühlt, eine Seefeder zu sein. Sie ist als fast sessiler, also ortsgebundener, Organismus, als Kolonie von Wirbellosen ohne Zentralnervensystem mit so anderen Sinnesorganen ausgestattet, über die selbst Neurophysiologen nur Vermutungen anstellen können, und von uns terrestrischen Wirbeltieren unendlich weit entfernt. Vermutlich trennen uns etwa 600 Millionen Jahre Evolution vom letzten gemeinsamen Vorfahren.
Vielleicht hilft es uns, mit der Vorstellungskraft eines wirbellosen Meeresbewohners zu beginnen, der immerhin über Augen und ein Zentralnervensystem verfügt, das wir etwas besser verstehen können und dem wir immerhin Intelligenz zugestehen. Was viele Menschen nicht davon abhält, ihn trotzdem zu essen.
Es geht um den Oktopus!
Ich bin auf einen wunderbar naturphilosophischen Blogartikel auf dem Science Blog „Nautilus“ in der Rubrik „Facts so romantic“ gestoßen: „What it feels like to be an Octopus“. Ich finde den Beitrag sehr interessant, folge Penanula aber nicht in allem. Meine Kommentare und Anmerkungen sind in Kursiv gesetzt.
Der Anblick eines Oktopus auf dem Italienischen Markt hatte Regan Penanula vom Nautilus-Magazine zu seinem Beitrag inspiriert. Er dachte darüber nach, dass ein Oktopus auf dem Arm eine halbe Milliarde Neuronen trägt. Und dass aufgrund der Neuronendichte der Krakenarm etwas von einem Gehirn hätte.
(Neuronen sind keine Gehirnzellen. Alle Tiere tragen Neuronen auf dem gesamten Körper, die Sinneswahrnehmungen aufnehmen und weiterleiten. Da ist der Krake keine Ausnahme. Aber: Eine Cephalopoden-Arbeitsgruppe um Hochner von der Hebrew University hat herausgefunden, dass Octopusse ihre sehr komplexen Armbewegungen mit Befehlen steuern, die offenbar im Arm selbst gespeichert sind. Die Arme sind also, in begrenztem Umfang, autonom vom zentralen Nervensystem im Kopf des Kraken – meertext).
Daraufhin hat Penanula zu diesem Thema den Philosophie-Professor Peter Godfrey-Smith interviewt, der sich mit Naturphilosophie beschäftigt.
Die Geschichten (und Forschungsergebnisse – meertext) um die bemerkenswerten Fähigkeiten der Kraken, knifflige Aufgaben zu lösen, Flaschen zu öffnen und mit den Aquariums-Wärtern zu interagieren, haben ihn dazu gebracht, die Intelligenz der Oktopusse und die unsere zu vergleichen. Beim Tintenfisch sind viele Neuronen in den Armen. Dann kommen noch große Konzentrationen von Neuronen dazu, die um die Speiseröhre und zwischen den Augen als Nervenzentren sitzen (und als analog zu einem Gehirn betrachtet werden – meertext).
Godfrey-Smith hatte vor Australien eine offenbar denkwürdige Begegnung mit einer neugierigen Sepia, seitdem denkt er über diese Wirbellosen mit dem hoch entwickelten Nervensystem nach. Er publiziert dazu, tauscht sich mit anderen Wissenschaftlern aus und schreibt auch auf seinem Blog darüber (ziemlich spannend, so beim ersten Reinlesen – er hat bei der Wahrnehmung von Wirbellosen noch den Faktor „Zeit“ eingebracht – meertext). Und er schreibt an einem Buch mit dem Titel Other Minds: “I think cephalopods have a special kind of otherness, because they are organized so differently from us and diverged evolutionarily from our line so long ago,” sagt er “If they do have minds, theirs are the most other minds of all.”
(Diese Andersheit, das Anderssein ist ein elementar wichtiger Aspekt bei unseren Überlegungen!
Im Weiteren gebe ich in groben Zügen das Nautilus-Interview wieder, die Fragen sind übersetzt, seine Antworten gekürzt. Das gesamte Interview ist im Artikel zu lesen – meertext).
Interview von Regan Penanula mit Peter Godfrey-Smith im Nautilus-Magazine
Nautilus: Hat ein Oktopus eine Selbstwahrnehmung?
Das ist eine schwierige Frage. Diese Tiere könnten eine vollständig andere Wahrnehmung haben, da ja ihr Nervensystem über den ganzen Körper verteilt ist. Die Arme haben eine gewisse Autonomie, so könnte jeder Arm seine eigene Erkundung der Umgebung durchführen und dabei ganz eigene Sinneseindrücke aufnehmen. So könnte also nicht nur das Gehirn (Bei Cephalopoden heißt es Centralganglion, es ist eine gehirnähnliche Struktur – meertext), sondern der ganze Körper in kognitive Vorgänge involviert sein.
Nautilus: Bereitet der Vorgang des Entdeckens dem Oktopus Vergnügen?
Oktopusse und Sepien entwickeln eine weitaus größere Neugierde als andere Wirbellose. Neugier ist ein starkes Wort im Kontext mit diesen Organismen, aber Oktopus-Forscher sind sicher, dass es das Verhalten von Kraken korrekt bezeichnet. So sind Oktopusse aufrichtig interessiert an Personen und ihren Tätigkeiten. Sie erkennen sogar einzelne Menschen in unterschiedlicher Kleidung wieder, wie in einem Experiment nachgewiesen wurde (Sie erkunden ihre Umgebung aktiv, probieren Dinge aus, suchen Lösungen für neuartige Probleme und merken sich sogar, wer ihnen gegenüber freundlich war. Menschen die sie nicht mögen, zwicken sie schon einmal – meertext).
Nautilus: Wie lernen sie?
Sie scheinen durch Versuch und Irrtum zu lernen. Außerdem probieren sie eigene Lösungen aus, was funktioniert und was nicht funktioniert. Das ist wesentlich ausgeklügelter, als die klassische Konditionierung, wie etwa bei Pawlows Hunden (Sie ahmen nicht nur nach, sondern finden bei neuartigen Problemen auch neuartige Lösungen und können offenbar mehrere Schritte planen. Etwa beim Öffnen eines Glases mit Schraubverschluss, um an die darin sitzende Garnele zu kommen. – meertext).
Nautilus: Sy Montgomery beschreibt in ihrem neuen Buch The Soul of an Octopus, dass sie mit Kraken Freundschaft geschlossen hätte. Denken Sie, dass Oktopusse zu Gefühlen wie „Freundschaft“ oder „Zuneigung“ fähig sind?
Ich denke, dass derartige Gefühle wohl zu differenziert sind. Aber sie schreibt auch, dass Kraken einzelne Menschen wieder erkennen können, und ob sie mit denen gute oder schlechte Erfahrungen verbinden. Sie unterscheiden also, ob sie jemanden mögen, oder nicht. Ich wäre aber sehr vorsichtig, das als „Freundschaft“ zu bezeichnen.
Nautilus: Was denken Sie über die Ähnlichkeiten unseres Verstandes und dem eines Kraken?
Wenn wir dabei Ähnlichkeiten sehen, bedeutet das, dass manche Eigenschaften unseres Verstandes vielleicht doch nicht so einzigartig sind, wie wir bislang angenommen haben. Stattdessen gibt es sie überall dort, wo Organismen große Gehirne entwickeln. Es könnte eine evolutive Tendenz zu einigen Eigenschaften geben, die im Kontext mit einem großen Gehirn und einer aktiven Lebensweise stehen. Es ist wichtig, bei diesem Punkt nicht zu übertreiben. Wir wissen nicht, ob diese Eigenschaften in jedem solchen Verstand existieren, wir sehen sie nur in zwei hoch entwickelten Organismengruppen. Sie scheinen bedeutsam zu sein. Es ist für ein gewisses Verstands-Niveau also keine Grundbedingung, ein Gehirn wie unseres zu haben.
Nautilus: Der Philosoph Thomas Nagel sagt, dass andere Verstand-Strukturen (hier steht im Original “minds” – wie übersetzt man den Plural von Verstand/Geist/Bewusstsein? – meertext) immer jenseits der menschlichen Erkenntnis liegen. Warum stimmen Sie ihm nicht zu?
Nagel suggeriert, dass es keine wissenschaftlichen Erklärung oder Erkundung von subjektiver Wahrnehmung geben kann – etwa, wie es sich anfühlt, ein Oktopus zu sein. Er meint, dass wir dieses Problem möglicherweise in der Zukunft mit neuartigen Theorien lösen können. Ich denke, dass Nagel und andere eine unrealistische Vorstellung davon haben, was eine wissenschaftliche Theorie zu diesem Thema leisten könnte. Auch eine wissenschaftliche Beschreibung kann nicht in Worte fassen, wie sich etwas anfühlt, denn sie kann keinen Bericht aus Erster Hand, also die originäre Erfahrung, ersetzen. Wir können nur fragen: Welche Organismen (oder Systeme) nehmen subjektive Erfahrungen wahr? Wie sieht es bei Fledermäusen aus? Wie bei Kraken? Und wie bei Computern?
Hier ist das vollständige Interview im Original zu lessen.
Mein Kommentar zu diesem Interview
Bei Säugetieren wie Fledermäusen dürfen wir einen gewissen Verstand annehmen, sie sind Säugetiere und haben komplexe Gehirne. Aber kennen sie „Freundschaft“? Immerhin kennen sie Mutterinstinkt und Altruismus – manche Fledermausarten geben hungernden Mit-Fledermäusen einen rettenden „Blutkuß“. Aber: Auch Klapperschlangen kennen ihre Verwandtschaft – verwandte Klapperschlangen überwintern gemeinsam in großen Ansammlungen. Und bisher ist noch niemand auf die Idee gekommen, einer Schlange ein weiterführendes Bewusstsein zuzugestehen.
Eine wichtige Ergänzung ist für mich noch einmal der Hinweis auf die Zeit und Dauer, Sinneseindrücke zu sammeln, Erfahrungen zu machen und zu lernen. Die allermeisten Kraken werden nur etwa ein Jahr alt. Sie sterben nach der ersten Eiablage. Nur in der Tiefsee scheinen Tintenfische teils wesentlich älter zu werden.
Für meine Begriffe erreichen die meisten Kopffüßer, gerade verglichen mit langlebigeren Säugetieren, extrem schnell das Stadium der Erkundung und des Lernens. Ich frage mich, wie die geistige Entwicklung eines Kraken aussähe, der 20 Jahre alt wird?
An dieser Stelle muss ich ehrlich zu geben, dass ich mir von dem Interview etwas mehr versprochen hatte. Das die Fragen nach dem Verstand und den Empfindungen des Oktopus und seiner vielarmigen Kollegen, den Sepien und Kalmaren) schwierig zu beantworten sind, wusste ich bereits vorher. Vielleicht hätte ein Interview mit den Experten für Tintenfisch-Verhalten wie Hanlon und Messenger (“Cephalopod Behaviour”) mehr Licht ins Dunkel gebracht. So bleibt für mich zu vieles im Verborgenen, Nicht-Gefragten und Nicht-Beantworteten, wie in einer Wolke aus Sepia-Tinte. Interessant ist aber die Tatsache, dass der Verstand des Oktopus überhaupt einen Philosophie-Professor beschäftigt. Damit wird Octopus vulgaris, der als Gemeiner Krake weltweit verbreitet ist, gefischt und schnöde als Seafood gefressen wird, zum Octopus sapiens geadelt. Möge dem vorgeblichen Homo sapiens seine nächste Tintenfisch-Mahlzeit schwer im Magen liegen bleiben. Ich werde auch weiterhin keine Tintenfische essen.
PS: Bei der Suche nach der Quelle für den Blutkuß kam mir seitenweise Vampir-Zeugs entgegen. Das möge sich bitte jeder und jede selbst heraussuchen, ich bin nicht bereit, das zu lesen und nach der gesuchten Publikation zu durchflöhen.
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