Leben und Stress an der Eiskante.
So lautet die verheißungsvolle Überschrift einer Reportage von Paul Nicklen. Das ist der geniale Photograph, den eine mütterlichen Seeleopardin mit einem kleinen Pinguin füttern wollte und dessen Kamera einmalige Einsichten ins Seeleoparden-Maul bekam. “I know leopard seals. Or, at least I thought I did. After dozens of underwater encounters with one of Antarctica’s top predators I took the liberty of putting their range of behaviors into a box. On this clear, crisp morning, little did I know that my attitude would nearly cost me my life…” schreibt er über sein Verhältnis zum zweitgrößten Beutegreifer des Kontinents im Ewigen Eis.
Paul Nicklen war also wieder auf der Photo-Pirsch am anderen Ende der Welt. Diesmal auf Kaiserpinguin-Photosafari (Aptenodytes forsteri).
An einigen Wasserlöchern und Eisschollen, an denen Kaiserpinguin-Aktivität war, versuchte er, sich in die Gedankenwelt eines Pinguins in dieser Position hineinzudenken. Als er den unverkennbaren Kopf eines Seeleoparden im Wasser erkannte und in Erinnerung an seine bisherigen Abenteuer mit diesen Flossfüßern lächelte.
Im nächsten Moment “explodierte” die große Robbe durch die Wasseroberfläche und kam wie ein schweres Geschoß auf Nicklen zugeschossen. Obwohl er 5 Meter von der Eiskante entfernt stand, hatte der Seeleopard seinen schätzungsweise 600 Pfund schweren Körper auf Augenhöhe des vermeintlichen Pinguins gebracht. Nicklen konnte noch den Arm hochreißen, um sein Gesicht zu schützen, dann riß ihn die Robbe von den Füßen und er prallte hart auf das Eis. Mensch und Robbe waren zunächst desorientiert und absolut überrascht. Aber am Wichtigsten war: Der Seeleopard hatte im letzten Moment seinen Irrtum bemerkt und die Kiefer vor dem Nicht-Pinguin geschlossen. Nicklen war unverletzt!
Und er war der erste Mensch, der eine solche Überraschungsattacke eines Seeleoparden jemals so erlebt hatte.
Später, bei einem Tauchgang, wurde dem Photographen auch klar, dass ein Mensch aus der Unterwassersicht einem Kaiserpinguin ähnelt. Der größte aller Pinguin wird bis zu 130 Zentimeter hoch und 37 Kilogramm schwer, seine aufrecht stehende Körperhaltung ähnelt der eines stehenden Menschen. Und grundsätzlich darf ein antarktischer Meeresjäger davon ausgehen, dass am Ufer stehende Gestalten stets Pinguine sind. Menschen kommen in seinem Erwartungs- und Erfahrungshorizont eher nicht vor.
Nicklen schreibt auch, dass den Pinguinen diese Gefahr aus dem eisigen Meer bewußt sein müsse. Denn bevor sie vom Eis ins Meer springen, stehen sie lange zögernd an der Eiskante. Im Bewußtsein, dass im Wasser zwar ihre Nahrung auf sie wartet, aber auch tödliche Jäger wie Seeleoparden und Orcas.
Der Artikel “Life and stress at the ice edge” lohnt sich unbedingt zu lesen, natürlich auch wegen der absolut phantastischen Bilder. Nicklen ist den kaiserlichen Vögeln ins Ross-Meer gefolgt und hat sie aus allernächster Nähe photographiert, elegante Taucher in einem Unterwasserballett aus Luftblasen.
Um diese Luftblasen, die die Vögel in ihrem Spezial-Tauchanzug-Gefieder mit sich nehmen, geht es im Artikel auch noch. Um eine physiologische Anpassung namens “air lubrication” , also etwa “Luftschmierung”, die 2011 von Professor John Davenport (University College Cork) und seinen Kollegen publiziert wurde.
In “Drag reduction by air release promotes fast ascent in jumping emperor penguins — a novel hypothesis” hatten Davenport et al die Hypothese aufgestellt, dass Pinguine eine Methode nutzen, die menschlichen Ingenieure als ‘air lubrication’ bezeichnen: Das Einspritzen von Luft in Grenzflächen zwischen Luft und Wasser zur schnellen Beschleunigung (“Injection of air into boundary layers”). Dazu hatten sie hatten viele Stunden Filme angeschaut und die Tauchgänge von Pinguinen studiert. So kam es zu ihrer Hypothese, dass auch Pinguine Luft im Gefieder im Wasser als Zusatzantrieb nutzen. Wenn die Vögel abtauchen, nimmt der Wasserdruck zu und komprimiert die Federn mit der enthaltenen Luft. Beim Auftauchen bleiben die Federn zusammengedrückt und die Luft entweicht. Dabei bildet sie über dem ganzen Körper eine dünne Schicht, der Pinguin zieht dann eine “Schleppe” aus feinen Luftbläschen hinter sich her. Diese “Luftschmierung” wirkt reibungsmindernd und erklärt das explosionsartige “Aus-dem-Wasser-schießen” der Pinguine, ohne das sie kaum die oft hohe Eiskante erklimmen könnten. Für mehr Details zum Angewandten Ingenieurswissen bzw. Ausreden fürs Pinguine-im-Wasser-Filme gucken empfehle ich die Lektüre der Original-Publikation.
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