Zusätzlich hatten Caroline Albertin und ihre Kollegen noch Hunderte von Kopffüßer-spezifischen Genen identifiziert, die etwa für die besondere Hautstruktur zuständig sind, die Saugnäpfe oder das Nervensystem. Außerdem fanden sie Hinweise auf signifikante Umgruppierungen von Genen. Sie kommen zu dem Schluss, dass die substanzielle Erweiterung einiger, weniger Gen-Familien für den größten Teil der Tintenfisch-spezifischen Eigenheiten wie etwa das komplexe, leistungsstarke Nervensystem verantwortlich seien.
PZ Myers schreibt dazu, dass ihn das alles nicht sehr überrascht. Schließlich seien die heutigen Tintenfische eine Tiergruppe, die radikale Änderungen hinter sich habe und ihr Genom passe exakt zu diesen Veränderungen. Etwa dem massiven Ausbau des Nervensystems bis hin zu einem Gehirn-Äquivalent.
Außerdem war das Genom der Tintenfische mit etwa 33000 Genen etwas größer als das von Menschen mit etwa 25000. Die Größe eines Genoms allein hat allerdings wenig Aussagekraft. Zum Vergleich: ein Kohlkopf (Brassica oleracea) hat 100000 Gene.
Interessant ist die Organisation der Hox-Gene. Die Autoren der Studie erzählten im Interview, einige DNA-Abschnitte sähen aus, wie im Mixer durcheinander gewirbelt.
PZ Myers erklärt es etwas sachlicher: Es geht um die Anordnung der Hox-Gene. In einem Lebewesen mit ursprünglichem Bauplan sind sie spezifisch und streng strukturiert angeordnet. Bei Octopoden ist diese strenge Ordnung aufgelöst, sie sehen auf den ersten Blick „unsortiert“ aus. Myers erklärt, dass dies den starken morphologischen Veränderungen der modernen Tintenfische entspricht (“Another interesting difference is in the organization of the Hox genes. We have what is considered the approximately primitive condition, with the genes arranged in a tight cluster with colinear expression relative to the body plan — they are laid out in the same order on the genome as they will be expressed along the length of the body. I am not surprised at this result, however: the octopus Hox genes are scattered and fragmented, no longer arranged in a tidy linear array. The coleoid cephalopods have undergone some genuinely radical morphological transformations during evolution, so it is perhaps only to be expected that their genome shows some similarly radical rearrangements.”)
Das Fazit lautet also: Die Ergebnisse der Studie sind nicht wirklich überraschend, das Genom des Octopus passt zu seiner Morphologie und die Autoren haben an keiner Stelle etwas davon geschrieben, dass Octopusse Aliens seien.
Woher kommt das „Alien“?
Wie aber kam nun das Wort „Alien“ in die Köpfe der Journalisten?
Dazu sind zwei Zitate im Rennen:
“The late British zoologist Martin Wells said the Octopus is an alien. In this sense, then, our paper describes the first sequenced genome from an alien,” Dr Clifton Ragsdale.
In einem Beitrag der Nature lautet das Zitat von Ragsdale: “It’s the first sequenced genome from something like an alien,” jokes neurobiologist Clifton Ragsdale of the University of Chicago in Illinois, who co-led the genetic analysis of the California two-spot octopus (Octopus bimaculoides). Daraus geht klar hervor, dass Ragsdale einen Scherz gemacht hat.
Das Zitat von Martin Wells konnte ich nicht verifizieren. Der 2009 verstorbene britische Zoologe war ein ausgewiesener Cephalopoden-Experte und ein Enkel von H. G. Wells. Ob er in seiner Funktion als Enkel des berühmten SF-Autoren, den er persönlich kaum kannte, eine Bemerkung über den Oktpus als Alien gemacht hat, habe ich bei einer ersten Recherche nicht herausgefunden. In diesem Interview von Wells mit der New York Times von 1998 bekomme ich allerdings den Eindruck, dass er seine Forschungsobjekte eher nicht aus der SF-Perspektive betrachtet hat. Er war zwar auch als Autor erfolgreich, hat sich aber vor allem mit ausgezeichneten Sachbüchern über Weichtiere in die Herzen seiner Leser geschrieben.
In einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Denken von Tieren fällt dann allerdings tatsächlich der Begriff „Alien“. Und zwar in einem Artikel des Naturphilosophen Peter Godfrey-Smith, über dessen Blick auf den Oktopus ich gerade geschrieben hatte. In meinem Artikel stand ein Interview aus dem Nautilus-Magazins im Focus. In einem anderen Beitrag schreibt Godfrey-Smith über den englischen Philosphen Thomas Nagel und dessen berühmte naturphilosophische Publikation von 1974:
Nagel hatte die Fledermaus als ein den Menschen fremdartig erscheinendes Geschöpf als Modell-Organismus ausgewählt. Ihre andere Wahrnehmung der Umgebung mit dem uns fremdartig erscheinenden Biosonar beschrieb er als „a fundamentally alien form of life“. „Alien“ benutzte er im Sinne von „fremdartig“, keinesfalls ging es um „außerirdisch“.
Dann stellt er die Frage: „What is it like to be a bat?“
Godfrey-Smith greift den Gedanken auf, findet die Fledermaus als Mit-Säugetier aber nicht fremdartig genug und ersetzt sie durch den Kraken: „If we want to think about something more truly alien, the octopus is ideal. Octopuses are distant from us in evolutionary terms, have a nervous system of very different design, and bodies with no bones and little fixed shape at all. What is it like to be an Octopus?“.
Der gesamte Beitrag ist sehr lesenswert, Godson-Smith zitiert Wells und Hanlon und gibt noch einmal einen Überblick zur Neurophysiologie und Verhaltensrepertoire.
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