„Haben Kraken wirklich drei Penisse?“ fragte mich vor ein paar Tagen meine Kollegin, ebenfalls Zoologin. „Du bist doch Expertin für Meerestiere “.
Auf meinen verdutzten Blick hin erklärte sie, dass der Philosoph Richard David Precht das in einer Talk-Show erzählt habe. Er stellte sein neues Buch „Tiere denken“ vor und sei damit vom Experten für Tierethik natürlich auch automatisch Experte für Zoologie (Dabei zog sie ironisch die Augenbraue hoch, die Dame ist nämlich selbst habilitierte Zoologin und Anatomie-Dozentin, allerdings auf terrestrische Säugetiere spezialisiert).
Und Kraken hätten auch drei Herzen und neun Gehirne. Aber die Aussage zu den Penissen sei beim Publikum natürlich am besten angekommen. Ja, klar, Penis et Circenses, Sex und Wortspiele, der Schmierstoff jeder erfolgreichen Talk-Show.
Warnhinweis: Für Personen unter 18 Jahren ist der folgende Blogeintrag möglicherweise ungeeignet.
Gestern Abend habe ich endlich geschafft, mir den entsprechenden Abschnitt der Talk-Show anzusehen und zu –hören.
Hier ist der link zur Mediathek, ab ca Minute 14 geht es um Oktopusse.
Prechts Engagement gegen die Massentierhaltung finde ich absolut ehrenwert. Dass sich ein Philosoph mit Zoologie beschäftigt, freut mich auch. Und dann leitet er zum Kopffüßer über, dem wirbellosen Tausendsassa, vor allem Kraken haben es ihm angetan.
Faktencheck zur Evolution
Begeistert erzählt er, wie sich Kopffüßer aus Seeschnecken und Muscheln entwickelt haben.
1. Den Begriff „Seeschnecken“ gibt es so nicht, das ist eine falsche Direktübersetzung des englischen „seashells“. Im Deutschen sprechen wir von Meeresschnecken und Süßwasserschnecken, davon leben einige in Seen. Aber nur sehr wenige und diese kleine Gruppe meinte er sicherlich nicht. Als Experte sollte man die korrekte Terminologie berücksichtigen.
2. Die Evolution innerhalb der Mollusken ist nicht abschließend geklärt. Fest steht heute, dass die Mollusken als Stamm sehr alt sind, wahrscheinlich über 580 Millionen Jahre. Die ältesten Fossilien sind allerdings umstritten. Vor 400 Millionen Jahren gab es bereits die heute noch lebenden Gruppen (Klassen) der Weichtiere: Muscheln (Bivalvia), Schnecken (Gastropoda), Kopffüßer (Cephalopoda) und Kahnfüßer (Scaphopoda). Diese Tiere sind enger miteinander verwandt. Daneben existieren heute noch Käferschnecken (Polyplacophora) und „Urmützenschnecken“ (Monoplacophora),die etwas entferntere Verwandte sind. Außerdem gibt es noch ausgestorbene Klassen.
Muscheln und Schnecken haben eine über 400 Millionen Jahre andauernde eigene Entwicklung hinter sich, sie sind heute hoch spezialisiert, genau wie die Kopffüßer. Darum sollte man sich hüten, sie einfach zu Vorläuferformen zu degradieren.
Octopoda sind eine achtbeinige Überordnung der Kopffüßer. Neben den zehnarmigen Kalmaren und Sepien sowie den 60- bis 90-armigen Perlboote (Nautilus). Die acht- und zehnbeinigen Kopffüßer haben eine Tintendrüse, darum heißen sie auch Tintenfische. Nautilus hat keine Tintenblase und ist somit kein Tintenfisch.
Im Weiteren geht es um die Kraken, die bekannteste Überordnung der Octopoda.
Zum Ein- und Weiterlesen zur Systematik empfehle ich den ausgezeichneten Wikipedia-Artikel der englischen Ausgabe.
Haben Kraken 3 Herzen?
Jaein.
Ja, sie haben ein Haupt- und zwei Nebenherzen. Und sie sind blaublütig.
Herzen und Blutsystem von Kraken sind aber anders aufgebaut und haben eine andere Effizienz als etwa ein Säugetierherz. Vergleiche von Organsystemen so unterschiedlicher Tierstämme sind ohne weitere Erläuterung irreführend.
Wer es genau wissen möchte, bekommt über das „Blaue Telefon“ eine ausführliche Antwort:
Kraken „verfügen tatsächlich über drei Herzen, die allerdings nur einen gemeinsamen Blutkreislauf antreiben. Das Hauptherz befindet sich im Eingeweidesack in der Körpermitte. Anders als das menschliche Herz hat es zwei Ausgänge für arterielles Blut. Eine Hauptschlagader führt zum Kopf, eine weitere Aorta versorgt die inneren Organe.
Zusätzlich verfügen Kraken über zwei weitere Herzen an der Basis der Kiemen, mit denen der lebensnotwendige Sauerstoff aufgenommen und an das Hauptherz weiter geleitet wird. „Im Prinzip sind die Herzen also in Reihe geschaltet“, sagt Prof. Frank Melzner. Die Meerestiere haben allerdings ein physiologisches Problem: „Tintenfische weisen im Mittel höhere Stoffwechselraten auf als etwa Fische“, erklärt der Kieler Meeresbiologe. „Weil sie den weniger effizienten Farbstoff Hämocyanin besitzen, kann ihr Blut nicht so viel Sauerstoff transportieren. Deswegen haben Kraken im Lauf der Evolution zusätzliche Herzen entwickelt.“ Zudem unterstützen aktiv pulsierende Venen die Blutzirkulation: „Diese kontraktilen Gefäße nehmen den Herzen also einen Teil der Arbeit ab und stellen sicher, dass alle Organe ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden.““
In diesem Video der Sektion eines Octopus sind die inneren Organe zu sehen:
Haben Kraken 9 Gehirne?
Jaein.
Auch dieser Vergleich hinkt auf acht Beinen.
Kraken haben eine große Konzentration von Neuronen um die Speiseröhre herum und zwischen den Augen, dieses zentrale Ganglion wird analog zum Wirbeltiergehirn als Haupt-Schaltzentrale betrachtet. Ich würde dieses Zentralnervensystem nicht einfach „Gehirn“ nennen, denn es ist nicht ganz vergleichbar.
Dazu kommen noch kleinere Nervensysteme in den Armen: „Eine Cephalopoden-Arbeitsgruppe um Hochner von der Hebrew University hat herausgefunden, dass Octopusse ihre sehr komplexen Armbewegungen mit Befehlen steuern, die offenbar im Arm selbst gespeichert sind. Die Arme sind also, in begrenztem Umfang, autonom vom zentralen Nervensystem im Kopf des Kraken“.
Diese neuralen Geflechte sind auch nur sehr eingeschränkt Gehirne in dem Sinne, wie wir es uns vorstellen.
Auch wenn Kraken sehr intelligent und lernfähig sind, wäre es besser, von gehirnähnlichen Strukturen zusprechen, als von Gehirnen. Denn bei den meisten Fernsehzuschauern dürfte sonst ein falscher Eindruck entstehen. Und das sollte ein Experte eigentlich vermeiden. Ich denke, dass ein Experte so etwas in drei Sätzen erklären kann und das Publikum damit nicht überfordert. Die Leute sind ja schließlich nicht doof.
Haben Kraken 3 Penisse?
Kraken hätten drei Penisse und drei Klitorisse. Und sie seien die Hälfte ihres Lebens mit Sex beschäftigt und dann umschlingen sie sich mit acht Armen, erklärt Precht mit ausladenden Gesten.
Nein, nein, nein und nein.
Mit der Bemerkung über die drei Penisse des Kraken kommt jetzt endlich Sex in die Talkshow, das hören die Zuschauer gern und es treibt die Quoten in die Höhe. Quoten verhalten sich nämlich ähnlich wie erektile Gewebe, eine mediale Erektion sozusagen.
Gerade bei Kraken würde ich weniger von Sex, sondern eher von Reproduktionsverhalten sprechen. Es geht schließlich nicht um den lüsternen Zeitvertreib der Hominiden, sondern einzig und allein um die Fortpflanzung zur Arterhaltung. Ob und was die Wirbellosen dabei empfinden, wissen wir nicht.
Doch der Reihe nach… Alle Kopffüßer sind zweigeschlechtlich. Kalmare und Sepien haben ausgedehnte Balztänze, die an ein Wasserballett mit Lichtorgel erinnern. Ihre Farbspiele zur innerartlichen Kommunikation sind im Tierreich einzigartig.
Kraken haben einen nur schwach ausgeprägten Sexualdimorphismus und kein so ausgeprägtes Balzverhalten wie etwa Kalmare. Ihre Begattungs- und Geschlechtsorgane sind als Organsystem noch weniger vergleichbar mit denen der Wirbeltiere.
Männliche Kraken produzieren Spermien, die als Päckchen zu einer Spermatophore „verpackt“ werden. Die Spermatophoren bewahren sie in Needham´s Organ bzw. Sack auf. Die Spermatophoren sind komplexe Strukturen aus Strängen von Spermien, bei manchen Spezies enthalten sie auch noch einen Ejakulationsapparat und Zement. Needham’s Sack öffnet sich in die linke Seite der Mantelhöhle, die Spermatophore wird mit Pumpbewegungen des Mantels über das Terminalorgan herausgetrieben. Das Terminalorgan wird manchmal auch als Penis bezeichnet, es ist allerdings damit nicht vergleichbar, da es die Spermien nicht in das Weibchen überträgt.
Der Hectocotylus ist der modifizierte dritte linke Arm des männlichen Krakens und hat meistens auf der Unterseite, also ventral, eine Rinne. An der Spitze des Hectocotylus befindet sich die Ligula, die artspezifisch und oft löffelartig geformt ist. Sie bringt die Spermatophore sicher an ihr Ziel. Jede Spermatophore kann einzeln ejakulieren, dann liegt die Masse der Spermien frei zugänglich.
Normalerweise ist die Ligula ein kleines, weißliches Organ und kaum zu sehen. Sie besteht tatsächlich aus erektilem Gewebe und erigiert für die Begattung. Janet Voight und Joseph Thompson haben dieses Organ näher untersucht: Das erektile Gewebe ließ sich bei der Präparation klar unterscheiden vom restlichen Muskelgewebe der Oktopus-Extremität:
When it’s not aroused, the two-spot octopus (Octopus bimaculatus) “has an exceptionally tiny ligula that’s very hard to see”, says Janet Voight of the University of Chicago1. […] Its structure is remarkably similar to mammal penises and clitorises, Voight and her colleague Joseph Thompson found. It has cavities that fill with blood held together by collagen.
Male octopuses produce a packet of sperm and insert it into their mate using this specialized arm. When all goes according to plan, the ligula is deployed inside the female, obscuring its function and size. It might help to transfer sperm, or it might scrub out the sperm of previous mates.
The organ is bright white, lacking the colour-changing cells that camouflage the rest of the octopus. In the two-spot, which hunts by day, this might be a beacon to predators. Shrinking it away might minimize this risk.
“For defensive purposes, you want a tiny copulatory organ, but you also want to transfer large quantities of sperm,” says Voight. In most octopuses, which are nocturnal or live in the deep sea, the ligula is muscular, like a continuation of the arm, and comes in just one size.”
Ob es eine adäquate Struktur bei weiblichen Kraken gibt, ist bisher völlig ungeklärt. Damit gibt die Tintenfisch-Literatur auch keinen Hinweis auf eine Klitoris-artige Struktur.
Mit der Spitze des Begattungsarms ertastet das Männchen in der Mantelhöhle des Weibchens die Öffnung des Ovidukts (Eileiter) und befestigt dort die Spermatophore mit „Protein-Klebstoff“ oder pumpt die Spermatophore in die Öffnung hinein. Dort befindet sich das Receptaculum seminis, die Samentasche. Darin kann die Krakin die Spermien für eine Weile aufbewahren. Bei der Eiablage werden die Eier dann befruchtet. Oktpoden haben also eine innere Befruchtung!
Allerdings sind Kopulation und Befruchtung getrennt, auch darum ist es kein „Sex“ in dem Sinne.
Die achtfüßigen Denker unter den Weichtieren werden nur ein bis zwei Jahre alt.
Die meisten Kraken-Männchen werden mit drei und sechs Monaten geschlechtsreif, dann produzieren sie Spermatophoren und können in ½ oder 2/3 ihrer Lebenszeit reife Spermien an Weibchen weitergeben. Kraken-Weibchen werden meist mit vier bis neun Monaten geschlechtsreif und können dann ½ oder 2/3 ihrer Lebenszeit Spermien in ihren Receptacula seminis aufbewahren.
Das heißt aber nicht, dass sie auch wirklich die Hälfte ihres Lebens mit dem Fortpflanzungsakt verbringen. Kraken sind ausgeprägte Einzelgänger und ihre Paarungen sind eher kurz.
Aber heftig. Bisher haben Wissenschaftler vor allem Paarungen von Octopus vulgaris beobachtet, die Tiere sind häufig und in flachen Gewässern für Taucher gut erreichbar.
O. vulgaris hat zwei Fortpflanzungs-Positionen: Entweder lehnt sich das Männchen über das Weibchen und erklimmt sie regelrecht, dann steckt er den Hectocotylus unter ihren Mantel. Das sieht nicht zuletzt wegen der wallenden Armbewegungen recht gewaltig aus. Oder er sitzt neben ihr und steckt nur die Spitze des Hectocotylus mit der Spermatophore unter ihren Mantel. Dabei sehen beide so aus, als ob sie eigentlich nichts miteinander zu tun haben.
Manchmal paaren sich auch zwei Männchen gleichzeitig mit dem gleichen Weibchen. Da die Weibchen zwei Öffnungen von zwei Ovidukten haben, sollte es zumindest keine mechanischen Probleme geben.
Die Paarungen selbst dauern meist zwischen 30 und 120 Minuten. Die saugnapfbewehrten Arme setzt das Männchen zum Transport der Spermatophore und zum Festhalten ein. Die von Precht angesprochene und mit ausholenden Armbewegungen untermalte 16-armige leidenschaftlich-zärtliche Umarmung findet so nicht statt.
Stattdessen geht es um Leben und Tod: Der Krake läuft Gefahr, von der meist größeren und stärkeren Krakin gefressen zu werden. Sexueller Kannibalismus ist bei Kraken nicht unüblich. Allerdings schaffen die Männchen es vorher meistens noch, zumindest einen Teil der Eier zu befruchten und erreichen damit ihr Lebensziel: Die erfolgreiche Weitergabe ihres Erbguts.
Sowie die Krakin ihre Eier abgelegt hat – sie klebt sie fest oder umschlingt sie schützend- bewacht und verteidigt sie ihre Brut. Nach der Brut ist ihr auch Leben zu Ende, sie siecht dahin.
Die ebenfalls achtarmigen Cirrentragenden Kraken und Vampir-Tintenfische haben keinen Hectocotylus, diese Tiefseebewohner haben noch andere Fortpflanzungsstrategien, als ihre Verwandten aus den oberen Wasserschichten. Bei einigen zehnarmigen Tintenfischen können auch zwei Arme zum Hectocotylus modifiziert sein, andere haben gar keinen.
Das Geschlechtsleben der Oktopusse aus Gründen der Volksbelustigung so zu verfälschen und zu übertreiben finde ich schon unseriös.
Mehr Märchenstunde als Meeresbiologie.
Postfaktisch eben.
PS: Im Sinne des ursprünglichen Aufhängers, nämlich Prechts Engagement gegen die Massentierhaltung, möchte ich noch anmerken, dass ich Kopffüßer, also Kraken, Kalmare, Sepien und Tintenschnecken sehr gern mag. Ich hatte schon so nette Erlebnisse mit ihnen. Darum würde ich auch nie auf die Idee kommen, sie zu essen. Vielleicht mag der eine oder die andere diesen Beitrag auch zum Anlass nehmen, diese hoch entwickelten Wirbellosen künftig auch nicht mehr zu verzehren.
Alle nicht ausdrücklich gekennzeichneten Informationen stammen aus dem ausgezeichneten Buch „Cephalopod behaviour“ des Granden der Tintenfisch-Verhaltensbiologie Roger T. Hanlon (Professor (MBL), Ecology & Evolutionary Biology, Brown University).
Mehr über seine Forschung, ausgezeichnete Videos und sogar ganze Vorlesungen sind auf seiner Website „Hanlon-Lab“ zu finden.
PS 2: Korrektur: Ich hatte Nautilus zunächst als “Tintenschnecke” bezeichnet. Das war falsch und ich habe es korrigiert (26.12.2016, 21:12).
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