Zunächst machten sich die beiden auf die Suche nach solchen Ohrpflöcken. Sie kontaktierten Charley Potter, der zu dem Zeitpunkt der Hüter (Collection Manager) der Wirbeltier-Sammlungen des Smithsonians war. Der freute sich natürlich über die Anfrage, denn: “It’s a good example of specimens which were collected for one purpose many, many years ago—the first ones were collected at the turn of the 20th century or so—and now as we find another way to interrogate these specimens, we’re able to discover that they have a whole other story to tell”. Das ist schließlich das wichtigste Anliegen eines Museumssammlungs-Managers, seine Objekte zum Sprechen zu bringen.
Natürlich hatte er Walohrpflöcke.
Sogar ziemlich viele. In den späten 1960-er Jahren, als der industrielle Walfang der USA zu Ende ging, hatte das Bureau of Fisheries (heute: National Marine Fisheries Service) in weiser Voraussicht noch eine große Menge von Gewebeproben der toten Wale gesammelt. Das Probenmaterial kam schließlich in die Sammlungen des Smithsonian, palettenweise.
Dann berieten Trumble, Usenko und Potter, wie man weiter vorgehen könne und was das Ohrschmalz aussagen könnte.
Dann suchten sie sich den Ohrpflock eines Blauwals heraus, der 2007 vor der kalifornischen Küste bei einem Umfall mit einem Schiff tödlich verletzt verstorben war, um daran exemplarisch eine solche Lebensgeschichte aus dem Ohrschmalz zu rekonstruieren. Der Blauwal war ein 21,2 Meter langes Männchen. Sein Ohrpflock war 25.4 Zentimeter lang, er enthielt 24 klar erkennbare Lagen, die einer Lebensspanne von 12 Jahren ± 6 Monaten entsprechen. Sein Skelett befindet sich heute im Santa Barbara Museum of Natural History.
Nach 18 Monaten hatten sie mit Daten aus dem Walblubber die Ohrpflöcke geeicht: Im Fettgewebe der Wale, dem Blubber, lagern sich Toxine besonders gut ab. Darum ist Walspeck ja auch so besonders hoch mit Schadstoffen belastet. Die im Fett abgelagerten Toxine wie Pestizide (DDT, DDE), verschiedene PCBs und andere Stoffe ließen sich im Ohrpflock wiederfinden.
Walblubber zeigt, welche Toxine ein Wal im Laufe seines Lebens aufgenommen hat.
Der Ohrpflock zeigt auch noch, wann der Wal welche Toxine aufgenommen hat.
Jede Schicht im Ohrpflock steht nämlich für einen Sechs-Monats-Intervall. Die kann man präzise auszählen, dadurch ergibt sich eine belastbare Baseline, von der aus messbar wird, zu welchen Zeiten der Wal welchen Umwelteinflüssen ausgesetzt war, etwa Pestiziden oder Quecksilber.
Der Wal ist also ein schwimmendes Archiv nicht nur für seine Lebensdaten, sondern darüber hinaus auch für die Daten der Ozeane, die er durchquerte.
Noch überraschender war, dass im Ohrschmalz sogar noch der Hormonpegel des Wals aufgezeichnet war. Denn, so Usenko, Hormone zerfallen in allen anderen Körpergeweben recht schnell.
Das ausgehärtete Ohrschmalz des Wals enthielt neben seinem Lebensalter nicht nur wichtige Aussagen zu Umweltparametern seiner Umgebung, sondern darüber hinaus auch noch ein Tagebuch der Physiologie dieses Wals, hormonelle Schwankungen und den Streß-Pegel. Die Wissenschaftler konnten das Alter, den Eintritt in die Pubertät (am Testosteron-Pegel des Blauwals klar erkennbar) sowie Zeiten der Eisprünge und Geburten (bei weiblichen Walen) herauslesen – lauter wichtige Informationen für ein besseres Bestandsmanagement und einen besseren Schutz dieser Meeresriesen (Usenko, Trumble, Potter et al: „Blue whale earplug reveals lifetime contaminant exposure and hormone profiles“ (Proceedings of the National Academy of Sciences)).
Ein anderer analysierter Ohrpflock stammte von einem Grönlandwal, der in Barrow, Alaska gestrandet war. Sie war 65 Jahre alt. Jede Schicht des Ohrpflocks zeigte klar die Unterteilung in hell und dunkel, wie bei Jahresringen eines Baumes.
Der Farbwechsel hängt mit der unterschiedlichen Ernährung des Wals zusammen, Grönlandwale – und die meisten anderen Großwale auch – wandern jedes Jahr zwischen zwei Meeresgebieten hin und her. Unterschiede in den Levels der Schwangerschaftshormone Progesteron und Estradiol zeigen, dass die Walin zwischen 11 und 14 Mal trächtig war, nach dem Erreichen der Geschlechtsreife etwa alle drei bis vier Jahre. Außerdem fand sich, so Trumble ein starker Anstieg des Streßhormons Cortisol während ihrer ersten Paarung und Trächtigkeit. Durch die Messung der Stickstoff-Isotope, die das Plankton-Futter in den Ohrpflöcken hinterlassen hatte, konnten die Wissenschaftler rekonstruieren, wann sie gefressen hat und wann sie gewandert ist. Diese Meeresriesin, so zeigte sich, bewegte sich den größten Teil ihres Lebens zwischen der Bering-See und der Tschuktschen-See.
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