Mit dieser neuen Methode kann man nun etwa den Ohrpflock eines Grauwals, der 1910 vor San Francisco im Pazifik erlegt worden ist und etwa um 1850 geboren worden war, mit dem eines Grauwals aus dem gleichen Meeresareal vergleichen, der etwa 1970 gestorben ist. Heute stammen die meisten Wal-Proben von gestrandeten Tieren und nicht mehr aus dem Walfang.
Die Wissenschaftler können mit dieser neuen Methode erstmals neben dem Lebensalter eines Individuums auch noch seine Lebensgeschichte – den Eintritt in die Pubertät (am Testosteron-Pegel des Blauwals klar erkennbar) sowie Zeiten der Eisprünge und Geburten (bei weiblichen Walen) – herauslesen. Lauter wichtige Informationen für ein besseres Bestandsmanagement und einen besseren Schutz dieser Meeresriesen.
Waren die Geburtsraten gleich hoch?
Welche Umweltgifte und andere Substanzen sind in den beiden Tieren zu finden? Waren die Stresslevel gleich hoch?
Diese und viele andere Fragen lassen sich so erstmals beantworten.
Die Analyse des sedimentierten Walohrschmalzes öffnet also vollkommen neue Möglichkeiten, mehr über die Lebensgeschichte eines individuellen Wals zu erfahren.
Der Umfang der Informationen ergibt sogar eine ziemlich vollständige „Krankenakte“.
Einen Hormonwert findet Trumble besonders interessant: das Stress-Hormon Cortisol.
Der 2007 von einem Schiff gerammte und verstorbene Blauwal hatte einen durchgehend hohen Cortisol-Spiegel, das spricht für dauerhaften Stress. Und warum gehen sie bei dem kürzlich in Barrow, Alaska, verstorbenen Grönlandwal auf und ab? Lag es an diesem Blauwal persönlich oder hat ihn der starke Schiffsverkehr unter Dauerstress gesetzt wurde.
Leiden Wale heute stärker unter Stress als in früheren Zeiten?
Wodurch entsteht der Stress – durch Lärm, Umweltgifte oder Nahrungsmangel?
Bis jetzt haben die Wissenschaftler etwa zwei Dutzend Ohrpflöcke analysiert, aus unterschiedlichen Museumssammlungen der Welt, einige sogar aus der heutigen Waljagd von Inuit-Völkern. Rahmen des „Aboriginal Whaling“ bejagen manche Inuit-Völker eine kleine Wal-Quote. Mit dieser Auswahl decken die Walforscher eine große zeitliche und geographische Spanne und Artenvielfalt ab.
Walohrschmalz als Ausstellungsexponat
Das Smithsonian-Museum in Washington präsentiert ab dem 10. März eine neue Ausstellung: “Objects of Wonder: From the Collections of the National museum of Natural History”. Sie wird bis 2019 zu sehen sein.
Der Ohrpflock aus Ohrschmalz eines Wals ist dann eine der ausgestellten Preziosen.
So kam es zu diesem aktuellen Artikel von Wendy Mitman Clarke auf dem Smithsonian-Blog vom January 25, 2017.
Ein schöner Anlass, um mal wieder auf die Bedeutung von Museumssammlungen hinzuweisen:
1. Museumssammlungen sind wertvolle Archive. Auch wenn sich der Wert mancher Objekte zum Zeitpunkt ihres Sammelns noch nicht klar ist, dauert es manchmal einige Zeit, bis mit neuen Methoden oder neuen Forschungsfragen diese bisher unwichtig erscheinenden Sammlungsstücke auf einmal eine neuartige, höchst aktuelle Bedeutung erlangen. In diesem Fall: Ein Klimaarchiv.
2. Neue Forschungsfragen ergeben sich, wenn sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen treffen und ins Plaudern kommen. Darum brauchen wir Tagungen, Meetings und Kommunikation über Wissenschaft.
3. Im Walohr sedimentiert Ohrschmalz zu geschichteten Ohrpflöcken (earplugs), in sechs Monaten lagert sich eine Schicht ab.
4. Diese Ohrpflöcke sind Archive der Physiologie des individuellen Wals und gleichzeitig Klimaarchive der Umgebung des Tieres.
Quellen und zum Weiterlesen:
Wendy Mitman Clarke: „For Scientists, Chunks of Whale Earwax Can Be Biological Treasure Troves” (Smithsonian, January 25, 2017)
Stephen J. Trumble; Eleanor M. Robinson; Michelle Berman-Kowalewski; Charles W. Potter and Sascha Usenko: “Blue whale earplug reveals lifetime contaminant exposure and hormone profiles” (Proc Natl Acad Sci U S A. 2013 Oct 15; 110(42): 16922–16926. Published online 2013 Sep 16. doi: 10.1073/pnas.1311418110
Ed Yong: “Biography Of A Blue Whale, Told Through Ear Wax“ (National Geographic-Blog “Not exactly Rocket Science”, 09/16/2013)
Christina Lockyer: “Age determination by means of the ear plug in baleen whales” · January 1984
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