Eingegraben im Sand lauert der Schwarm am Strand von Brighton, nur die Antennen mit den Geruchssensoren ragen aus dem Meeresboden empor.
Ein verwesender Tierkörper hat die vielbeinigen kleinen Aasfresser angelockt. Ein anderer Körper betritt den Ort des Fressgelages am flachen Strand, scheucht die kleinen Krebse auf und verharrt dann regungslos. Gierig stürzt sich der Krebsschwarm auf diese neue Mahlzeit, scharfe Mandibeln schneiden Stücke aus dem frischen Fleisch.

Image result for lysianassidae

Lysianassidae (Wikipedia)

Eine Szene wie aus Schätzings „Der Schwarm“.
Aber genau das ist am Dendy Street-Strand in Brighton, Australien so passiert.
Sam Kanizay, 16, wollte nach dem anstrengenden „footy“ – so nennen die Australier ihr Rugby – seine müden Beine im erfrischenden Wasser des winterlichen Pazifiks noch etwas abkühlen. Wenig später hält der junge Australier seine blutüberströmten Fußgelenke und Füße in die Kamera.
Immer noch blutend war er nach Hause zurückkehrt, sein Vater, Jarrod Kanizay, brachte ihn umgehend ins Krankenhaus. Außerdem fischte der Vater noch einige Belegexemplare aus dem Meer, so dass die Meeresbiologin Dr. Genefor​ Walker-Smith (Museum Victoria, Melbourne) die vielfüßigen Übeltäter schnell identifizieren konnte: Lysianassiden, die zu den Amphipoden (Flohkrebse) gehören – die blutrünstige Verwandtschaft unseres Bachflohkrebses.
Diese Beißattacke wurde sofort ein Medienknüller, das Interview von Walker-Smith gegenüber dem Sydney Morning Herald vom 08.08.2017 wurde auch in den deutschen Medien flächendeckend übernommen.

Aber was genau hat die Beißattacke eigentlich ausgelöst? Was wissen wir über diese Tiere?
Und: Besteht eine Gefahr für andere Menschen, möglicherweise sogar an europäischen Küsten?

Diese Fragen hat der Taxonom und Amphipoden-Experte Dr. Oliver Coleman (Naturkundemuseum Berlin) beantwortet. Er kennt sich nicht nur exquisit mit den verwandtschaftlichen Beziehungen – der Taxonomie – dieser kleinen Krebse aus, sondern hat auch ihre Anatomie und Ökologie detailliert studiert.

Mundwerkzeuge mit scharfen Schneidekanten
Sam Kanizay hatte einfach das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort stehen zu bleiben. „Normalerweise greifen Amphipoden keine Menschen an“, erklärt Oliver Coleman. Wahrscheinlich stand der junge Mann, wie die australische Kollegin schon vermutet hatte, in der Nähe einer Tierleiche, etwa eines Fisches.
Aas zieht mit seinem starken Duft viele hungrige Tiere an – „Scavenger“ oder Aasfresser. „So ein Flohkrebs hat vor der Mundöffnung eine Reihe von Mundwerkzeugen, die wichtigsten sind die Mandibeln. Lysianassiden haben besonders massive Mandibeln mit scharfen Kanten, so können sie wie mit Messern Stücke aus ihrer Beute herausschneiden.“ erklärt der Experte.

Image result for amphipod sand

Die Sandboden-Community unter unseren Füßen (https://www.marine.tmd.go.th/marinemet_html/lect20.html)

Wie jetzt auch bei Sam Kanizay. Dass der Junge davon nichts bemerkt hat, wundert Oliver Coleman gar nicht: „Das kalte Wasser betäubt Verletzungen sehr effektiv, mir ist es auch schon häufiger passiert.“ Der winterliche Pazifik ist um 15°C kühl. Genefor ​Walker-Smith mutmaßte, dass die Tierchen über ein Antigerinnungsmittel verfügen. „Das“, so Oliver Coleman „würde keinen Sinn machen. Lysianassiden saugen kein Blut – wie etwa Egel – sondern schneiden Fleischstückchen aus ihrer Beute. Das ist hier ja auch durch die Probennahme und das Experiment des Vaters nachgewiesen. Er hatte an der Unfallstelle einige der kleinen Krebse gefischt hat und sie über Nacht ein Stückchen Fleisch auffressen lassen. Für ein Antigerinnungsmittel bei Krebsen gibt es jedenfalls keinen Beweis und auch keinen Grund.“ Wahrscheinlich war eher die Tiefe der Wunden der Grund, dass Sams Beine so lange bluteten.

Die Flohkrebse, die Sam Kanizay angeknabbert haben, liegen normalerweise im flachen Wasser im Sand versteckt. Niemals allein, sondern als größerer Schwarm. Dann lugen nur die ersten Antennen mit den leistungsstarken Riechhärchen über den Sand hinaus. Erschnuppern diese Chemorezeptoren einen viel versprechenden Geruch, steigt der Schwarm auf und schwimmt zur Duft-Quelle hin. Am Ort des Begehrens angekommen, verhaken die kleinen Krebse ihre spitzen Füßchen auf der meist bewegungslosen Beute und konzentrieren sich ganz aufs Fressen. Sie müssen nun möglichst schnell und möglichst viel fressen, schließlich ist nicht sicher, wann die nächste Tierleiche zu erwarten ist. Außerdem müssen kleine Aasfresser stets damit rechnen, selbst gefressen zu werden. Darum sind sie auf eine schnelle und effektive Nahrungsaufnahme spezialisiert: „Die Aasfresser unter den Flohkrebsen haben deswegen besonders große Mägen, bis zu ein Drittel der Körperlänge!“ – Oliver Coleman hat schon viele der mikroskopisch kleinen Krustentiere detailliert präpariert, eine hohe Kunst, die ruhige Hände und gute Augen erfordert.

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (13)

  1. #1 Malte
    Kiel
    16. August 2017

    Moin,
    vorweg: ich bin kein Wissenschaftler.
    Aber als Fliegenfischer an der Ostseeküste begegnen mir diese Tierchen beim Waten durch den Blasentang immer. Ich finde die wirklich toll zum Beobachten. Der größte, der mir auf Alsen untergekommen ist, war “eingekringelt” ca. 2,5 cm groß. Da war ich wirklich überrascht, da ich sie sonst nur halb so groß kannte (und es war Winter; Wassertemperatur ca. 7°).
    Aus meiner unwissenschaftlichen Sicht finde ich wirklich witzig, wenn sie an die Oberfläche kommen und sich auf die Seite legen, um sich nach ein paar Minuten wieder nach unten in geschütztes Pflanzendickicht zu begeben.
    Ganz tolle Tiere. Und als Imitat leicht als “Fliegen” zu binden, um Meerforellen zu fangen.
    Taschenkrebse sind da eine ganz andere und ziemlich selbstbewusste Liga…
    Gruß von der Küste
    Malte

  2. #2 Bettina Wurche
    16. August 2017

    @Malte: Moin – für gute Tierbeobachtungen muss man kein Wissenschaftler sein. Dieses lateral zusammengedrückte, eingerollte Erscheinungsbild hat zu Namen “Wasserfloh” geführt. Die einzelnen Tiere verschieden Alterstufen können sehr unterschiedlich groß sein, die Weibchen sind größer als die Männchen. Schöne Beobachtung!

  3. #3 Malte
    16. August 2017

    Ich fand das Tierchen faszinierend und konnte es mit meiner Handfläche “einfangen”, so dass es in meiner Handfläche schwamm. Ganz tolle Begegnung, da lässt man auch die “Fliege” mal ins Nirvana absinken, so dass dann erstmal mit fischen vorbei ist.
    Es ist sowieso unglaublich viel Leben im Spülsaum der Ostsee, ich wundere mich immer wieder, vor allem im Frühjahr. Aber die Auffälligsten sind diese Tangläufer.

  4. #4 gedankenknick
    16. August 2017

    Erinnert mich an meine Kindheit an Urlaube an der Südküste Rügens. Manche Jahre gab es extrem viele, manche Jahre auch fast gar keine Flohkrebse. Aber immer zu finden in angespülten abgestorbenem Seegras. Angeknabbert wurden wir aber zum Glück nie… 😉

  5. #5 RPGNo1
    16. August 2017

    Jetzt verstehe ich die kleinen Viecher besser.
    Aber trotzdem, ein leichter Grusel bleibt nach der Story aus Australien immer noch zurück. Das Motto der Amphipoden könnte lauten: Klein, aber gemein. Oder neutraler: Klein, aber oho.

  6. #6 tomtoo
    16. August 2017

    @RPGNo1
    Eher sowas wirtschaftliches.
    “Bleibst du stehen, fress ich dich”
    Misst da würde mir einiges einfallen.
    ; )

  7. #7 Uli Schoppe
    17. August 2017

    Ist zwar OT aber: wir sind gerade an der Ostsee. Habe den Artikel mal herum gezeigt, der Kommentar meiner Großen : Das zählt hier eh nicht, das ist Australien. ALLES in Australien will dich töten! XD

  8. […] Bei Meertext ist die Geschichte des Australiers Sam, der einer Mini-Krebs-Attacke am Strand zum Opfer fiel, erzählt und wir erfahren etwas mehr über die Verwandten unserer Bachflohkrebse. An der Nordsee sollten wir aber vor ihnen sicher sein. […]

  9. #9 tomtoo
    19. August 2017

    Hi @Bettina sehn die nicht toll aus ?
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Glaucus_atlanticus
    Hast du “Live” schon angeschaut ?

  10. #10 Bettina Wurche
    20. August 2017

    @Uli Schoppe: Da hat er nicht ganz unrecht. Die Feuerqaullen an der Ostsee tun einfach nur weh, abe rmna stirbt nicht daran, wie an den Seewespen. Die Ostseehaie sind zu kleine, um einen Schwimmer aufzuessen und Krokodile gibt es auch nicht. …aber Neunaugen: https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/panorama/fisch-greift-badende-urlauber-an-id441241.html
    Für den kleinen Urlaubsgrusel : )

  11. #11 Bettina Wurche
    20. August 2017

    @tomtoo: Seeschmetterlinge! Die sind wunderschön, die gehören zur “Blauen Flotte”. Nein, “Live” habe ich nicht geschaut. Direkt nach dem Hochladen des letzten Beitrags sind wir abgedüst zur Sonnenfinsternis. Quer durch den Südwesten des USA sind wir jetzt in Illinois angekommen, wo mir morgen den großen Event erleben werden. Da wir mit Freunden unterwegs sind, bin ich jetzt meistens offline.

  12. #12 tomtoo
    20. August 2017

    @Bettina
    Super ! Wünsche euch eine tolle Ansicht. Also Glück mit dem Wetter. Hatt schon einen Gänsehauteffekt so eine totale Sonnenfinsternis. ; )

  13. #13 Bettina Wurche
    21. August 2017

    @alle: Euch allen vielen lieben Dank!!!! Ja, an die in Deutschland 1999 erinnere ich mich gut. Aber das hier soll etwas GANZ anderes sein. Auch ich bin natürlich sehr gespannt auf die Reaktion der Tiere. Die vielen kleinen flirrenden Halbmonde müssen überiridisch sein. Ich muss jetzt ´raus, hier geht´s bald los.