Eingegraben im Sand lauert der Schwarm am Strand von Brighton, nur die Antennen mit den Geruchssensoren ragen aus dem Meeresboden empor.
Ein verwesender Tierkörper hat die vielbeinigen kleinen Aasfresser angelockt. Ein anderer Körper betritt den Ort des Fressgelages am flachen Strand, scheucht die kleinen Krebse auf und verharrt dann regungslos. Gierig stürzt sich der Krebsschwarm auf diese neue Mahlzeit, scharfe Mandibeln schneiden Stücke aus dem frischen Fleisch.
Eine Szene wie aus Schätzings „Der Schwarm“.
Aber genau das ist am Dendy Street-Strand in Brighton, Australien so passiert.
Sam Kanizay, 16, wollte nach dem anstrengenden „footy“ – so nennen die Australier ihr Rugby – seine müden Beine im erfrischenden Wasser des winterlichen Pazifiks noch etwas abkühlen. Wenig später hält der junge Australier seine blutüberströmten Fußgelenke und Füße in die Kamera.
Immer noch blutend war er nach Hause zurückkehrt, sein Vater, Jarrod Kanizay, brachte ihn umgehend ins Krankenhaus. Außerdem fischte der Vater noch einige Belegexemplare aus dem Meer, so dass die Meeresbiologin Dr. Genefor Walker-Smith (Museum Victoria, Melbourne) die vielfüßigen Übeltäter schnell identifizieren konnte: Lysianassiden, die zu den Amphipoden (Flohkrebse) gehören – die blutrünstige Verwandtschaft unseres Bachflohkrebses.
Diese Beißattacke wurde sofort ein Medienknüller, das Interview von Walker-Smith gegenüber dem Sydney Morning Herald vom 08.08.2017 wurde auch in den deutschen Medien flächendeckend übernommen.
Aber was genau hat die Beißattacke eigentlich ausgelöst? Was wissen wir über diese Tiere?
Und: Besteht eine Gefahr für andere Menschen, möglicherweise sogar an europäischen Küsten?
Diese Fragen hat der Taxonom und Amphipoden-Experte Dr. Oliver Coleman (Naturkundemuseum Berlin) beantwortet. Er kennt sich nicht nur exquisit mit den verwandtschaftlichen Beziehungen – der Taxonomie – dieser kleinen Krebse aus, sondern hat auch ihre Anatomie und Ökologie detailliert studiert.
Mundwerkzeuge mit scharfen Schneidekanten
Sam Kanizay hatte einfach das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort stehen zu bleiben. „Normalerweise greifen Amphipoden keine Menschen an“, erklärt Oliver Coleman. Wahrscheinlich stand der junge Mann, wie die australische Kollegin schon vermutet hatte, in der Nähe einer Tierleiche, etwa eines Fisches.
Aas zieht mit seinem starken Duft viele hungrige Tiere an – „Scavenger“ oder Aasfresser. „So ein Flohkrebs hat vor der Mundöffnung eine Reihe von Mundwerkzeugen, die wichtigsten sind die Mandibeln. Lysianassiden haben besonders massive Mandibeln mit scharfen Kanten, so können sie wie mit Messern Stücke aus ihrer Beute herausschneiden.“ erklärt der Experte.
Wie jetzt auch bei Sam Kanizay. Dass der Junge davon nichts bemerkt hat, wundert Oliver Coleman gar nicht: „Das kalte Wasser betäubt Verletzungen sehr effektiv, mir ist es auch schon häufiger passiert.“ Der winterliche Pazifik ist um 15°C kühl. Genefor Walker-Smith mutmaßte, dass die Tierchen über ein Antigerinnungsmittel verfügen. „Das“, so Oliver Coleman „würde keinen Sinn machen. Lysianassiden saugen kein Blut – wie etwa Egel – sondern schneiden Fleischstückchen aus ihrer Beute. Das ist hier ja auch durch die Probennahme und das Experiment des Vaters nachgewiesen. Er hatte an der Unfallstelle einige der kleinen Krebse gefischt hat und sie über Nacht ein Stückchen Fleisch auffressen lassen. Für ein Antigerinnungsmittel bei Krebsen gibt es jedenfalls keinen Beweis und auch keinen Grund.“ Wahrscheinlich war eher die Tiefe der Wunden der Grund, dass Sams Beine so lange bluteten.
Die Flohkrebse, die Sam Kanizay angeknabbert haben, liegen normalerweise im flachen Wasser im Sand versteckt. Niemals allein, sondern als größerer Schwarm. Dann lugen nur die ersten Antennen mit den leistungsstarken Riechhärchen über den Sand hinaus. Erschnuppern diese Chemorezeptoren einen viel versprechenden Geruch, steigt der Schwarm auf und schwimmt zur Duft-Quelle hin. Am Ort des Begehrens angekommen, verhaken die kleinen Krebse ihre spitzen Füßchen auf der meist bewegungslosen Beute und konzentrieren sich ganz aufs Fressen. Sie müssen nun möglichst schnell und möglichst viel fressen, schließlich ist nicht sicher, wann die nächste Tierleiche zu erwarten ist. Außerdem müssen kleine Aasfresser stets damit rechnen, selbst gefressen zu werden. Darum sind sie auf eine schnelle und effektive Nahrungsaufnahme spezialisiert: „Die Aasfresser unter den Flohkrebsen haben deswegen besonders große Mägen, bis zu ein Drittel der Körperlänge!“ – Oliver Coleman hat schon viele der mikroskopisch kleinen Krustentiere detailliert präpariert, eine hohe Kunst, die ruhige Hände und gute Augen erfordert.
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