Eine dicht gedrängte Masse kleiner Pelztiere wuselt durch die karge subpolare Landschaft, durch Blaubeer-Gestrüpp, über Rentierflechten und andere niedrig wachsenden Polarpflanzen. An einer Klippe stürzen sich die Kleinsäuger in den Tod. Aus gebrochenen Knopfaugen starren sie in den von der Mitternachtssonne diffus erleuchteten Himmel.
Dieses Bild vom rätselhaften Freitod der Lemminge dominiert bis heute die menschliche Vorstellung des arktischen Kleinsäugers. Natürlich ist es eine rein anthropozentrische Interpretation, denn von einem Selbstmord kann keine Rede sein.
Aber was steckt hinter der Geschichte? Was wissen wir wirklich über das leben und Sterben von Lemmus lemmus?
Die volle Wahrheit über Lemminge
Lemminge gehören zu den Wühlmäusen, mehrere Arten von ihnen bevölkern die Tundren der Arktis. Zur Gattung der Echten Lemmingen (Lemmus) gehören Berglemming, Lemmus lemmus (Skandinavien, Halbinsel Kola), Sibirischer Lemming, Lemmus sibiricus (Sibirien) und Brauner Lemming, Lemmus trimucronatus (nordamerikanische Arktis).
Mit ihren kurzen Beinchen und runden Öhrchen sehen sie Hamstern recht ähnlich, neben dem Elch sind sie eine Art inoffzielles terrestrisches Wappentier skandinavischer Länder. Zahlenmäßig sind sie sicherlich die am stärksten vertetenen Säugetiere der Arktis.
Die Geschichte von Lemming-Massenwanderung und –Selbstmord ist ein Moderner Mythos (urban legend), dessen Ursprung in Skandinavien liegt. Wahrscheinlich hatten Menschen dort regelmäßig die massenhafte Vermehrungen und Wanderungen der skandinavischen Berg-Lemminge beobachtet und auch, dass viele der Kleinsäuger das strapaziöse Gewusel nicht überlebten. So beschrieb es u. a. der Skandinavienreisende und Forscher A. De Capell Brooke in seinem 1823 erschienenen Buch “Brooke´s Travels in Norway & to the North Cape”
Seinen endgültigen Ruhmeszug begann der Mythos vom Lemming-Massensuizid an der Klippe dann mit dem Disney-Film „ Weiße Wildnis“ von 1958.
Der Ökologe und Lemming-Experte Nils Christian Stenseth erklärte in einem BBC-Interview, wie das Disney-Fimteam die berühmte Szene vom Klippensprung der Lemminge inszenierte und was daran alles nicht der Wahrheit entspricht. Zunächst wurde der Film nicht in Skandinavien und mit den dort lebenden Berglemmingen gedreht, sondern in Kanada mit den dort lebenden Braunen Lemmingen. Die kanadischen Lemminge waren nicht ganz authentische Doubles ihrer skandinavischen Kumpel, da von ihnen gar keine Massenwanderungen belegt sind.
Außerdem, so Stenseth, liefen die Kleinsäuger nicht freiwillig auf die Klippe am Meer zu, sondern wurden von einem Lastwagen dorthin abgekippt.
Die Fakten sind weitaus weniger spektakulär: Auch bei Lemmingen gibt es, wie bei vielen anderen Tieren, regelmäßige Populationsschwankungen.
In Sommern mit gutem Nahrungsangebot können sie sich schnell extrem stark vermehren: Die Lemmingin bringt nach einer Tragzeit von etwa zwanzig Tagen drei bis sieben Junge zur Welt. Manche Weibchen sehen bereits im Alter von 14 Tagen Mutterfreuden entgegen, natürlich kann es mehrere Würfe pro Jahr geben: „Ein Paar wurde beobachtet, wie es in 167 Tagen acht Würfe hervorbrachte.“
Was passiert am Ende des Sommers mit den Lemmingen?
Stenseth und seine Kollegen haben zwischen 1970 and 1997 umfangreiche Daten gesammelt und 2008 publiziert: Alles, was Lemminge wirklich brauchen, ist der richtige Schnee. Wenn der Schnee trocken und weich ist, können sich unter der Schneedecke Hohlräume bilden. Dort bauen die Lemminge ausgedehnte Gangsysteme, nagen ihre pflanzliche Nahrung und sind auch noch vor Prädatoren geschützt. Gibt es eine Reihe solcher Winter, wächst die Schar der hungrigen Kleinsäuger so an, dass sie die Pflanzen der Tundra übergrasen. Dann machen sich Scharen von ihnen auf die Suche nach neuen Weidegründen. Wenn eine Gruppe Lemminge sich aufmacht, kann es passieren, dass sie an einem Hang mit einem gewissen Gefälle von der Schwerkraft überwältigt nach unten purzeln, erklärt Stenseth.
Solche Winter mit perfektem Lemming-Komfortzonen-Schnee gibt es meistens alle paar Jahre, so ist das wiederkehrende Massenaufkommen von Lemmingen als Lemming-Zyklus bekannt. Bis in die 90-er Jahre gab es gleich eine Reihe solcher strengen Winter, so hat sich eine große Wühlmaus-Population unter dem Schnee aufbauen können. Seit Mitte der 90-er Jahre allerdings hat sich die Schneebeschaffenheit von trocken und weich zu nass geändert. Damit ist es mit den Lemming-Megacities mit gutem Nahrungsangebot und Prädatorenschutz unter dem Schnee erst einmal vorbei gewesen, ihre Kopfzahlen sind seitdem gesunken. Die Lemming-Population hängt also ab von den klimatischen Verhältnissen.
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