Der Tiefsee-Experte Dr. Craig McClain arbeitet mit seinem Team gerade an Alligatoren in der Tiefsee (“Alligators in the Abyss”). Die drei zwischen 2 und 2,5 Meter großen Reptilien liegen in einer Tiefe von 2000 Metern im Golf von Mexiko. Welchen Beitrag leisten diese Tiere zur Biodiversität und dem Kohlenstoffzyklus (Carbon Cycle) der Tiefsee?
Alligatoren in der Tiefsee?
In diesem Fall handelt es sich um die Kadaver dreier toter Alligator mississippiensis-Exemplare, die von der Naturschutzbehörde im Artenmanagement-Programm von Lousiana geschossen worden waren.
Auch wenn manche Krokodile sehr wohl im Meer schwimmen können, ist die Tiefsee kaum ihr natürlicher Lebensraum.
Die Ozeane sind in unter 200 Metern Tiefe nahrungsarme Räume, regelrechte Wüsten. So tief dringt kein Sonnenlicht mehr ins Wasser, das die Photosynthese des pflanzlichen Planktons – die Basis der marinen Nahrungsnetze – ermöglicht. Auf dem abyssalen Meeresboden kommen schätzungsweise weniger als 1 % der an der Meeresoberfäche produzierten Biomasse an, schreibt Craig McClain.
Unregelmäßig und nicht oft sinken von der Meeresoberfläche Nährstoffe bis in die Tiefe – absinkende Tierkadaver sind dabei eine besonders wichtige Nahrungsquelle. Dass ein abgesunkener Kadaver in der Tiefsee eine Buffet-Oase ist, wurde erstmals an Walkadavern beschrieben, solch ein Walkadaver-Ökosystem ist ein Whale Fall. Mittlerweile ist klar, dass auch kleinere Organismen wie Tintenfische oder Fische einen solchen Food Fall bilden, sogar Bäume (Wood Fall) werden zum Party-Buffet auf dem Meeresgrund.
Kadaver sind dann ein großer Nährstoffeintrag auf einem Haufen, sie ziehen innerhalb kürzester Zeit eine ganze Community von Tiefsee-Organismen an, von Schleimaalen über Krebse verschiedener Größen bis hin zu Bakterienmatten. Je nach Ozean oder sogar Ozeanbecken variiert die Zusammensetzung dieser Lebensgemeinschaften, sie sind ähnlich charakteristisch wie endemische Inselbevölkerungen. Die Aasfresser bevorzugen jeweils unterschiedliche Stadien der Verwesung des Kadavers, ihre Abfolge wiederholt sich: Zunächst die Schleimaale, später die Zombiewürmer und eine Abfolge unterschiedlicher Krebse und Bakterienkolonien. Die Zombiewürmer durchlöchern ein Skelett und verdauen dabei die in den Knochen steckenden Fette.
Diese Tiefseewesen haben exzellente Geruchsrezeptoren und erschnuppern ihr Buffet über viele Kilometer hinweg. Dann kommen sie angelaufen oder – geschwommen, um sich die Mägen zu füllen. Schließlich ist nicht gewiß, wann das nächste Menu kommen wird.
Food Falls sind ein erheblicher Teil des in die Tiefsee eingetragenen Kohlenstoffs. Die Erforschung des Kohlenstoff-Zyklus (Carbon Cycle) ist zurzeit eine wichtige Fragestellung in der Meeresökologie, sie führt zu einem besseren Verständnis der Entwicklung und Dynamik von Nahrungsnetzen. Neben lebenden Tieren und Pflanzen sowie ihren Kadavern sind auch Fäkalien ein Teil dieser Nährstoffbasis.
Wie ist Dr Craig McClain nun auf Alligatoren gekommen?
Bisher hatte sich die Erforschung von Food Falls im Wesentlichen auf große und kleine Wale, Robben, große Fische wie Thune oder Haie oder, Kalmare oder Baumstämme fokussiert.
Entlang der Wanderrouten der Wale oder nach Tropenstürmen, die besonders viele Bäume ins Meer rissen, erforschen Ökologen solche Food Falls. Manchmal versenken sie auch tot aufgefundene Wale, um die Abfolge der auftretenden Aasfresser zu analysieren und zu erforschen, wie lange eine Nahrungsquelle überhaupt reicht und wie die Abfolge der Community verläuft.
Im Golf von Mexiko und anderen warmen Gewässern werden über Flüsse oder Hochwasser regelmäßig auch Krokodilartige ins Meer und bis in die Tiefsee eingeschwemmt: So berichtet McClain von an den Strand gespülten Mississippi-Alligatoren: ein drei Meter langes Reptil am Folly Beach, South Carolina in 2014 und ein vier Meter langes Tier in 2016 in Galveston, Texas. Tropische Stürme und Hochwasser in Flüssen könnten diese Tiere tot oder lebendig mit sich ins Meer reißen. Lebende Mississippi-Alligatoren sind etwa nach dem Hurrikan Katrina 2005 schon 30 Kilometer vor der Küste beobachtet worden. Während eines Mississippi-Hochwassers 2011 sind gleich mehrere Kadaver der großen Reptilien an der Mündung des Atchafalaya River entdeckt worden.
Es besteht also sehr wohl die Möglichkeit, dass ein Alligator eine Insel des Lebens in der Tiefsee werden kann. „Thus, I am on ship, 100’s of kilometers from shore, placing an alligator 2 kilometers deep on the seafloor.” schreibt McClain auf dem Blog The Deep Sea News.
Noch wichtiger ist dieses Experiment für die Paläontologie: Im Mesozoikum, dem Erdmittelalter und der Blütezeit auch der großen Meeresreptilien, dürften solche Reptile Falls wesentlich häufiger gewesen sein dürften. Schließlich besetzten Ichthyosaurier, Mosasaurier, Plesiosaurier, Krokodile und andere Reptiliengruppen damals viele ökologische Nischen, die heute von Meeressäugern oder Fischen ausgefüllt werden.
Aus Fossilfunden ist bekannt, dass seit über 30 Millionen Jahren die Kadaver großer Meerestiere von anderen Tieren besiedelt werden: Der deutsche Paläontologe Steffen Kiel hatte 2006 an 30 Millionen Jahren alten Knochen von Walen und Vögeln die Spuren des Zombiewurms Osedax beschrieben.
2014 hatte Silvia Danise (Uni Plymouth) solche Besiedlungspuren von einem Ophtalmosaurus-Fossil beschrieben. Das Skelett dieses großen Ichthyosauriers zeigte charakteristische Bißmarken von Fisch- und Seeigel-Zähnen. 2015 beschrieben Danise und Higgs drei Fossilien mit Spuren des Osedax: Beim ersten handelt es sich um den 100 Millionen Jahre alten Oberarmknochen eines Plesiosaurus. Die anderen beiden Fossilien waren Rippen und Bauchpanzer von etwa 60 Millionen Jahre alter Meeresschildkröten.
Über die Forschungsergebnisse für aktuelle ökologische Fragen hinaus dürfte dieses Projekt also auch für viele Paläontologen sehr wertvoll sein! Über die Ökologie und die Kohlenstoff-Zyklen fossiler mariner Systeme ist schließlich noch nicht so viel bekannt.
In den modernen Meeren sind Alligatoren das, was den ausgestorbenen Meeresechsen des Erdmittelalters am nächsten kommt. Darum ist dieses Alligatoren-Experiment ein großartiges Lehrstück für die Aktuopaläontologie: Paläontologen beobachten heutige Tiere und Pflanzen, um so Erklärungen für Fossilien ableiten zu können.
In Deutschland gibt es zwei herausragende Fossil-Lagerstätten, an denen genau solche Fragestellungen von Bedeutung sind: Die weißen Plattenkalke auf der fränkischen Alb, Solnhofen, Eichstätt und Mühlheim. Und die schwarzen Posidonienschiefer der schwäbischen Alb, mit den Fundstellen Holzmaden und Dotternhausen. Beide Fundstellen sind Konservat-Lagerstätten und lassen aufgrund ihrer herausragenden Erhaltung inklusiver weicher Bestandteile wie Haut und Federn eine weitreichende Rekonstruktion mariner Ökosysteme zu. In den schwarzen Posidonienschiefern sind vor allem die Ichthyosaurier in herausragender Erhaltung zu finden, in den weißen Solnhofen-Plattenkalken sind es verschiedene große Meeresreptilien, Flugsaurier und die berühmte Archaeopteryx lithographica.
PS: Leider habe ich keine Bildfreigabe bekommen. Die Aufnahmen des verwesenden Alligators in der Tiefe des Golf von Mexiko sind hier zu sehen.
PS II (19.02): Gerade eben ist mir ein schöner Artikel zu einem Whale Fall-Experiment in die Timeline “gefallen”:
Dabei geht es um einen Finnwal namens “Rosebud” und die Bedeutung des Whale Falls als Generator der Biodiversität. Die Abfolge der Tiefsee-Buffet-Gäste ist schön beschrieben:
“The first animals to pounce had been scavengers, such as sleeper sharks and slimy, snake-like hagfish. In the course of about six months, they had eaten most of the skin and muscle. Inevitably, the scavengers had scattered pieces of flesh around the whale carcass, and native microbes had multiplied quickly around those scraps. Their feeding frenzy, in turn, had depleted oxygen in the seafloor’s top layers, creating niches for microbes that could make methane or breathe sulfate.”
https://www.newyorker.com/science/elements/a-whales-afterlife?fbclid=IwAR05NC2pBIMbVxcjqgVxZnI9Btgeo9jCkMROJ3fLTihFSBNWc-kLgYw25Eo
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