(Teil 1: OTRAG – eine Raketen-Story zwischen Peenemünde-Kameradschaften, Entwicklungshilfe und Raketen-Baukasten (1))

In Deutschland besteht kein großes Interesse an Kaysers privatwirtschaftlichem Raketen-Konzept, so sucht Lutz Kayser woanders nach einem geeigneten Raketen-Testgelände. Seine guten Kontakte bzw. Kontaktleute seiner Kontaktleute führen ihn schließlich nach Bayern zu Franz-Josef Strauß und weiter zu dem berüchtigten afrikanischen Diktator Mobutu. Ausgerechnet beim Box-Spektakel zwischen Muhammed Ali und George Forman stellt der Raketen-Konstrukteur Kayser dem Diktator Mobutu seine Raketen-Pläne vor.

Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu wa Zabanga („der Krieger, der von Eroberung zu Eroberung schreitet, ohne Angst zu haben“), Potentat von Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo) ist innerhalb einer halben Stunde berauscht von der Idee, der erste afrikanische Staatschef mit einem Aufklärungssatelliten und einer eigenen Raketenstartrampe zu werden: „Mobutu war der erste Politiker, der die kommerzielle Bedeutung des Projekts klar erkannte. Er wusste, das bringt Prestige und vielleicht Geld. […] Als Soldat weiß Mobutu, was Aufklärung bedeutet. Er möchte die Sahne auf dem Tisch des Nachbarpräsidenten sehen.“ erzählt Kayser später. („Dann wäre Deutschland führend in der Welt“ Spiegel, 1978).
Zügig kommt es zum Vertragsabschluß: gegen die Zahlung von 25 Mio Zaire (ca 62 Millionen DM) darf die OTRAG ein Areal von 100.000 km² (4% des Staatsgebiets Zaire, fast so groß wie die DDR) uneingeschränkt nutzen. Das Geld sollte erst beim ersten kommerziell erfolgreichen Start einer Trägerrakete fällig werden. Dass die Raketen Mobutus Hoheitsabzeichen tragen würden, ja müssten, war ein zusätzliches Leckerli – nach UNO-Vorschrift muss alles, was ins All geschossen wird, Hoheitsabzeichen tragen. Die Bundesrepublik hatte Kayser weder ein Startgelände – was im dicht besiedelten Deutschland einfach nicht möglich war und ist – noch den Bundesadler zugestehen wollen, der afrikanische Herrscher gibt Areal und Emblem gern.

Dieses Video “De raket van Mobutu” zeigt einen OTRAG-Raketenstart, Kayser und Mobutu schauen andächtig zu:

Auf ihrem Territorium dürfen die deutschen Raketen-Herren frei walten und schalten: das „uneingeschränkte Nutzungsrecht“ umfasst Hoheitsrechte wie eine eigene Gerichtsbarkeit, das Aufstellen einer eigenen Wachtruppe und die mögliche Evakuierung der Bewohner. Die Deutschen würden dort diplomatische Immunität, Zoll- und Steuerfreiheit genießen und selbst bestimmen können, wer ihr Territorium betreten darf. „Kayser-Reich“ nennt die Presse dieses gepachtete Raketenareal (n. n.: „Kolonialismus: Feuer in den Himmel“; Spiegel, 1977).

An die Öffentlichkeit gelangt der Vertragstext erst später, nachdem eine oppositionelle zairische Gruppe das Exemplar aus der zairischen Botschaft in Bonn gestohlen und in den Medien veröffentlicht hatte.
Damit ist der Skandal perfekt!
Neokolonialismus, Imperialismus und heimliche Aufrüstung lautet der Chor der internationalen Empörung.
Da Debus sich später rühmt, der Mobutu vorgelegte Pachtvertrag sei nahezu identisch mit dem Vertrag der USA zur Annexion des Panama-Kanals im Jahre 1903 (n. n.: „Dann wäre Deutschland führend in der Welt“; Spiegel; 1978), dürfte der Neokolonialismus-Vorwurf nicht ganz aus der Luft gegriffen sein.

Politische Verwirrung: Entwicklungshilfe, Imperialismus oder Neokolonialismus?
Nach den Deutschland-Verträgen von 1955 darf Deutschland keine militärisch verwendbaren Raketen oder Raketentriebwerke bauen. Zu groß ist die Angst der europäischen Nachbarn und anderer Länder vor einer erneuten technologischen Übermacht des 1945 unter blutigen Verlusten besiegten Deutschlands. Das geteilte Deutschland soll technisch und politisch abgerüstet bleiben und sich bestenfalls an den Raketenprojekten anderer Länder beteiligen dürfen, etwa an dem französischen Ariane-Projekt.

Nach dem Bekanntwerden des neokolonialistisch anmutenden Pachtvertrags und öffentlichen Äußerungen wie Kaysers man könne „selbstverständlich alles  militärisch mißbrauchen“ und Debus` „Deutschland wäre mit dieser Rakete führend in der Welt“ wird das externe Raketenprojekt allmählich zu einer politischen Belastung für die Bundesrepublik. Das Fließen staatlicher Unterstützungen und deutscher Steuergelder gibt dem sinistren Vorhaben einen halb-offiziellen Anstrich. Staatschefs sprechen Schmidt und Genscher darauf an, vorwurfsvoll und besorgt. Die Sowjetunion beklagt sich über die „aktiven Raketen-Ambitionen des westdeutschen Generalstabes und der größten westdeutschen Konzerne des militärisch-industriellen Komplexes“ („Dann wäre Deutschland führend in der Welt“; Spiegel; 1978). Verschiedene afrikanische Staaten befürchteten ein militärisches Übergewicht und mögliche Übergriffe des westlich geduldeten und teils unterstützten Mobutu-Regimes.
„Die Provinz Shaba ist ein Schauplatz des Ost-West-Konflikts, die Führer der Provinz haben mit belgischer und US-amerikanischer Unterstützung den ersten frei gewählten Ministerpräsidenten des Kongo, Patrice Lumumba, ermorden lassen, den man im Westen kommunistischer Sympathien verdächtigte“. Mobutu hingegen gilt im Westen als Verbündeter gegen den Kommunismus: In Shaba kämpft Mobutus Armee gegen Soldaten des Front National de Liberation du Congo, tausende Menschen fliehen vor diesem Krieg. Eine Intervention westlicher Staaten verhindert die drohende Niederlage Mobutus Truppen, belgische Fallschirmspringer und französische Fremdenlegionäre richten ein Blutbad auch unter der Zivilbevölkerung an (Martin Baer, Andrea Böhm: „Raketen für Afrika“, Die Zeit; 2008).

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Kommentare (13)

  1. #1 gedankenknick
    12. April 2019

    Die “Dual-Use”-Problematik, nach der man zivile Güter auch militärisch umnutzen, benutzen und verbauen kann, ist ja allgegenwärtig. Ich kann jede Schraube für einen zivilen LKW auch in einen militärischen Lastwagen einbauen. Bestimmte Hochleistungsschalter, die man in medizinischen Geräten benötigt, bieten sich auch zur Zündsteuerung von Atombomben an. Aus Stahl lassen sich chirurgische Pinzetten genauso fertigen wie AP-Munition, Fleischermesser genau wie Bajonette.

    Und insbesondere bei Raketentechnik hat man das ja schon bei dem A4-V2-Dilemma gesehen. Das “Aggregat 4” war ursprünglich (auch) zum Erreichen eines Erdorbit konzipiert. Die daraus abgeleitete “Vergeltungswaffe 2” hatte mit Erdorbit dann eher nichts mehr zu tun.

    Erinnert mich auch an die Geschichte (oder den Mythos?), dass die UdSSR in den 80gern angeblich einen Haufen dieser damals top-modernen hand-held-Videospiele mit LCD-Display eingekauft hat (gegen Devisen). Nicht um die Kinder der eigenen Bevölkerung zu beglücken, sondern weil es billiger war, die darin verbauten Integrierten Schaltkreise für die Steuerung von Sonarbojen umzunutzen als solche Chips selber zu produzieren.

    Für diese “Dual-Use”-Problematik wurde meines Wissens nach bis heute keine Lösung gefunden, einfach weil m.E. sich keine sinnvolle Lösung finden läßt.

  2. #2 Bettina Wurche
    12. April 2019

    @gedankenknick: Du hast natürlich völlig recht, so ein Dual Use lässt sich oft gar nicht ausschließen.
    Soweit ich weiß, waren auch die Peenemünder V2-EntwicklerInnen nicht ausschließlich stramme Nazis, manche wollten einfach Raketen bauen.
    In diesem Fall war das Problem allerdings, dass Kayser auch öffentlich diesen Nutzen seiner Raketen propagierte. Dass andere Länder dann Druck auf die Bundesregierung ausübten, aus Angst, Deutschland könne doch wieder durch technische Entwicklungen zu einer ernshaften Bedrohung heranwachsen, finde ich sehr nachvollziehbar.

  3. #3 RPGNo1
    12. April 2019

    Eine hoffentlich nicht allzu dumme Frage: Warum ist diese zugleich spannende wie auch haarsträubende Geschichte in Deutschland des Jahres 2019 anscheinend nahezu unbekannt? Ich habe über diese Artikel zum ersten Mal davon gehört.

    Sonst werden doch oft aus weitaus weniger wichtigen Ereignissen auch aus Präinternet-Zeiten Dokumentationen oder Reportagen erstellt.

  4. #4 Bettina Wurche
    12. April 2019

    @RPGNo1: In den 70- und nochmal in den 80-er Jahren war es schon in der Tagespresse, da war es eben aktuell. Dann kam nach dem Tod von Lutz Kayser 2017 der Film, es gab noch das Buch und ein paar kleine Notizen in der Tagespresse. Das Thema scheint eher ein Randthema zu sein. Das Gros der LeserInnen der Tagespresse interessiert sich eher für Kim Kardashian (sogar auf SPON), CatContent, die Abbildung des eigenen Essens und Aufregerthemen wie Masern/Impflicht, Brexit, … Inhalte und Fakten stehen hinter emotionalen Aufregern weit zurück (s. Diskussion um Masern/Impfpflicht). Es ist verständlich, dass Redakteure in Zeiten knapper Finanzierung und sterbender Zeitungen das bedienen müssen.
    Ich bin auf die OTRAG gestoßen, weil Rainer zur Podiusmdiskussion eingeladen war und mir davon erzählt hat. Ich habe dazu wirklich umfangreich recherchiert und lange daran geschrieben, es hat mir allerdings nicht so viel LeserInnen gebracht, wie erwartet.
    Letztendlich kann ich Deine Frage nicht beantworten, sondern nur mutmaßen.

  5. #5 RPGNo1
    12. April 2019

    @Bettina Wurche
    Danke 🙂

  6. #6 Don Martin
    13. April 2019

    Also Kurt Debus hat als strammer Nazi begonnen, Inklusive SA und SS-Mitgliedschaft, auch wenn er später prominent im Apolloprogramm war. Und für die Penemündener Urgesteine hat sich die Frage nach Dual Use nie gestellt, weil von Beginn an nur die Reichswehr als Finanzier in Frage kam – sonst war keiner dazu bereit oder fähig.

    Bei aller technischer Begeisterung und Fähigkeit, die man diesen Leuten zuerkennen muss – von der Geschichte im Westen waren Raketen immer erst einmal Massenmordinstrument, dann Spionage, dann kommerziell und dann erst wissenschaftliches Forschungsinstrument.

  7. #7 Bettina Wurche
    14. April 2019

    @Don Martin: Bei Eugen Sänger war das genauso (s. Wiki-Eintrag). Und Lutz Kayser soll sich angeblich gerühmt haben, ein Hitler-Gemälde zu besitzen.
    https://www.theguardian.com/travel/2015/jun/13/naked-island-idyll-eccentric-couple-recall-life-rockets-dictators
    Ich habe es allerdings nicht für alle genannten Personen recherchiert und wollte keine pauschale Verurteilung vornehmen.

  8. #8 bombjack
    17. April 2019

    Da gab es einen Artikel in der P.M. Ausgabe 7/1981 ( Peter Moosleitners interessantes Magazin) über das Teil.

    bombjack

  9. #9 Bettina Wurche
    17. April 2019

    @bombjack: Zu schade, dass der nicht online ist, hätte ich gern gelesen

  10. #10 roel
    17. April 2019

    @Bettina Wurche Super interessanter Beitrag.

    Ich habe ein bisschen gewühlt:

    https://www.astronautix.com/o/otrag.html

    Siehe auch die Links im Artikel.

  11. #11 roel
    18. April 2019

    @Bettina Wurche

    Ergänzende Informationen zu OTRAG und meinem gestrigen Link auf astronautix(dot)com

    Bernd Leitenberger hat sich ausfürlich mit OTRAG beschäftigt. Seine Ausführungen findet man hier: https://www.bernd-leitenberger.de/otrag2.shtml
    Das ist der zweite Teil, aber er enthält auch den Link auf den ersten Teil und auf die Einführung, mit weiteren Verweisen.

    Auch sehr interessant:
    The last OTRAG rocket – launched from Esrange von Sven Grahn https://www.svengrahn.pp.se/histind/Swefirst/Soundingrocketdetails/OTRAG/OTRAGEsrange.htm

    What’s going up in Zaire? OTRAG’s rocket base in Shaba von Stanley Cohn
    https://authors.library.caltech.edu/25694/1/MALN_49.pdf

    Zwischen den Fronten des Kalten Krieges von Michael Ohnewald
    https://www.michael-ohnewald.de/pdf/FAZ_Seite_Otrag.pdf

  12. #12 rolak
    3. März 2020

    Grad eben wurde eine neue Doku zum Thema von der Mediathek frei Haus geliefert.

  13. #13 Bettina Wurche
    3. März 2020

    @rolak: Klasse, danke!