Die in Teil 1: “Vor 125.000 Jahren waren Pottwale fast ausgestorben – nur 10.000 hatten überlebt” vorgestellten Publikationen sind molekularbiologisch sicherlich exzellent, aber mir fehlt der interdisziplinäre Kontext. Bei der Frage nach dem Warum bleiben sie im Vagen und nennen generell eine Klimaveränderung.
Hier möchte ich darstellen, was genau eine solche Erwärmung bedeutet – exemplarisch am arktischen Nahrungsnetz. Erst mit der Kenntnis der komplexen biologischen Kenntnisse wird klar, wieso einige Grad Erwärmung ganze Ökosysteme stören und möglicherweise sogar Walsterben initiieren können.
Die Pottwal-Katastrophe vor etwa 125.000 Jahren fällt in das Mittel-Pleistozän.
In exakt diesem Zeitraum zeigen Eisbohrkenne aus Grönland und der Antarktis einen gewaltigen Ausschlag nach oben – eine abrupte Erwärmung!
Was genau diesen Klimaevent hervorgerufen hat und wie warm genau die Meere damals wurden, vermag ich nicht zu beurteilen, ich bin keine Klimatologin.
Für das Ergebnis ist es unerheblich. Fest steht, dass der genetische Flaschenhals der Leviathan durch einen Klimaevent am wahrscheinlichsten und schlüssigsten zu erklären ist.
Aber rapide Klimaveränderungen führen immer zu tiefgreifenden Veränderungen in Ökosystemen – Jahrtausende oder Jahrhunderte sind ein zu geringer Zeitraum für eine Anpassung.
Was genau passiert, wenn ein Ozean wärmer wird?
Bei einer Ozeanerwärmung verschiebt sich die wichtige Frühjahrsalgenblüte nach vorn: Im Frühjahr kommt es durch das zunehmende Sonnenlicht und die zunehmende Temperatur zu einer plötzlichen starken Algenblüte.
In den arktischen und antarktischen Ozeanen ist dieser Vorgang besonders stark: Über den dunklen Winter wachsen Algen kaum, so bleiben die Nährstoffe im Meer ungenutzt.
Wenn dann wieder Licht für die Photosynthese vorhanden ist und die Temperaturen steigen, hat das Phytoplankton einen reich gedeckten „Tisch“. Ein besonders wichtiger Teil des Phytoplanktons sind die Eisalgen, die auf der Unterseite des Meereises wachsen.
Diese Primärproduktion ist der jährliche Startschuss für fast alle Nahrungsnetze im Ozean. Zeitlich versetzt folgt dann ein Wachstumsboom aller anderen trophischen Stufen: Pflanzliches Plankton – Tierisches Plankton – Fische, Tintenfische – Wale, große Fische. Sowie die Pflanzen die Nährstoffe im Meer ausgeschöpft haben, schwächt die erste Algenblüte ab.
Das ozeanische Nahrungsnetz ist fein abgestimmt: Fische laichen so ab, dass ihre Larven pünktlich zur Phytoplanktonblüte schlüpfen – so sind die Jungfische mit genügend Babynahrung versorgt. Findet die erste Planktonblüte plötzlich früher statt, finden die Fischlarven nur noch Reste davon vor. Ohne genügend Nahrung wachsen sie nicht gut oder verhungern sogar. Diese Hungerwelle setzt sich über alle Bereiche der ozeanischen Nahrungsnetze fort.
Höhere Wassertemperaturen können das Meereis dünner werden lassen, dann bekommen die Eisalgen mehr Licht
und ihr Wachstum fällt noch stärker aus. Es endet allerdings auch früher.
Bei noch weiterer Erwärmung taut das Eis, die Eiskante weicht weiter nach Norden zurück – ohne Eis gibt es keine Eisalgen, die Primärproduktion des Ozeans fällt dann wesentlich geringer aus.
Höhere Wassertemperaturen begünstigen auch andere Algen und andere Einzeller wie die giftigen Dinoflagellaten, die die Rote Flut verursachen – die potenten Algentoxine haben bereits mehrfach schlagartig Hunderte von Delphinen und Großwalen (und andere Meerestiere) getötet. Sie fügen auch Aquakulturen schwere Schäden zu.
Weiterhin bedeutet wärmeres Wasser auch weniger Sauerstoffgehalt im Ozean, so dass Meerestiere ersticken oder abwandern können.
Zusätzlich kann es zu noch größeren ozeanographischen Veränderungen kommen: Durch andere Temperaturgradienten kann sich die Schichtung der Wasserschichten ändern, dadurch können letztendlich sogar große ozeanische Strömungen umgelenkt oder gestoppt werden – ein Beispiel dafür ist die nordatlantische Oszillation.
Steigende Meerestemperaturen, Umweltgifte und Beifang: Schlechte Zeiten für Wale im Anthropozän
Die Klima-Schwankungen vor 125.000 Jahren im Pleistozän war extrem stark und schnell, eine eigentlich global verbreitete Art wie den Pottwal hatben sie an den Rand des Aussterbens gebracht. In Zeiten des Klimawandels halten konservative Klimamodelle eine zunehmend schnellere Temperaturänderung für wahrscheinlich
Möglicherweise fällt die Veränderung auch wesentlich stärker aus, wenn noch weitere Rückkopplungen im ozeanischen Gefüge dazukommen, die zurzeit niemand genau einzuschätzen vermag.
Eine schnelle Erwärmung hat auf jeden Fall schwerwiegendere Folgen haben, die Wale sind dabei nur ökologische Marker ganzer riesiger Systeme. Aus der Klimaänderung ist längst eine Klimakrise geworden.
Wenn ich mir dann noch vorstelle, dass – nicht nur – Wale gleichzeitig immens unter den Folgen der Fischerei und der Ozeanverschmutzung leiden, schwant mir nichts Gutes für die Geschöpfe der Meere.
Ein weiterer Aspekt von Alana Alexanders Arbeit von 2016 war übrigens die Schadstoffbelastung der Pottwale. Ihr Ergebnis: Die großen Zahnwale sind sehr hoch mit Schadstoffen belastet – typisch für langlebige Tiere am Ende der Nahrungskette, die toxische Substanzen über Jahrzehnte in den Körpergeweben anreichern.
Was das bedeutet, kann man gerade an Orca-Gruppen wie der Familie AT 1 (Transient-Untergruppe) vor Alaska und den West Coast Orcas vor den Britischen Inseln exemplarisch beobachten. Familie AT 1 hatte im ausgelaufenen Öl der Exxon Valdez gebadet und pflanzt sich seitdem nicht mehr fort. Der alaskanische Orca-Experte Craig Matkin sagt dazu: „Bereits im ersten Winter danach (nach der Exxon Valdez-Ölpest) wurden neun Tiere vermisst, später verschwanden weitere. Die hohe Sterblichkeit und die niedrige Geburtenrate führten dazu, dass schließlich nur noch acht Tiere übrig waren. Da weiterhin der Nachwuchs ausbleibt, erholt sich der Bestand nicht. Matkin befürchtet das Schlimmste: „Ich gehe davon aus, dass die Familie aussterben wird. Ihre genetische Linie wird dann für immer erloschen sein. Ein unersetzlicher Verlust im Gen-Pool dieser Unterart.““ (Ich hatte Craig Matkin 2016 für einen Beitrag für Bild der Wissenschaft interviewt).
Die britischen West Coast Orcas baden einfach nur im Nord-Atlantik mit seinen hoch industrialisierten Anliegern und deren konzentrierten Abwässern, die sich in der Nahrungskette anreichen: Vor allem PCBs mindern nachweislich die Fruchtbarkeit, dazu kommt noch ein Cocktail aus anderen toxischen Substanzen. Für mehrere Orca-Bestände im südlichen Nordatlantik ist die Situation schon sehr ernst, andere Bestände in weniger belasteten Gewässern haben glücklicherweise weniger Probleme.
Über Beifang als große Gefahr für Wale gibt es – leider – bereits genug Meertext-Berichte, auch über die Bedrohung durch Plastikabfälle. Aktuell sind in den letzten Monaten mehrere Pottwale an den Küsten des Mittelmeeres gestrandet, in deren Mägen sehr viel Plastik gefunden wurde, was auch als mutmaßliche Todesursache angenommen wird.
Persönliches Statement:
Die Publikationen zur Pottwalgenetik sind nicht brandneu, sondern von 2016 und 2018. Ich bin in der vergangenen Woche mal wieder darauf gestoßen und ich wollte dieses wichtige Pottwalthema meinem Meertext-Portfolio hinzufügen.
Wale sind Endglieder der marinen Nahrungsketten und Zeigerorganismen für Veränderungen. Wenn bei den großen, unübersehbaren Walen Probleme sichtbar werden, betreffen diese Probleme bereits ganze Ökosysteme. Das sollte man im Hinterkopf behalten.
Aktuell beschäftigt mich gerade ein großes Walsterben im Pazifik, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine direkte Folge der derzeitigen Erwärmung des arktischen Ozeans ist. Die Erwärmung der Ozeane im Zuge der aktuellen Klimakrise ist für die meisten Menschen ein sehr abstraktes Thema. Dabei betrifft es uns ganz konkret. Ich wollte an diesem Beispiel, einmal die konkreten biologischen Folgen solcher schnellen Erwärmung aufzuzeigen. Die Diskussion in der Öffentlichkeit dreht sich um Zahlen – de facto geht es um ganze Ökosysteme und letztendlich auch um die Versorgung vieler Millionen Menschen mit Nahrungsressourcen aus den Meeren.
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