In der Nordsee lebten einst Einhörner.
Schreibt jedenfalls der geniale Paläontologe Olivier Lambert. Er hat gerade einen fossilen Narwal beschrieben (Olivier Lambert, Pierre Gigase: A monodontid cetacean from the Early Pliocene of the North Sea). Der Fundort des Fossils: Die Nordseeküste bei Antwerpen. Dort sind reiche Fossilienvorkommen aus der Nordsee mit einer diversen Wal- und Robbenfauna sowie Haizähnen und anderen versteinerten Zeitzeugen. Die heutige Küstenlinie der Nordsee ist zurückgewichen, so liegen diese Fossilvorkommen jetzt frei zugänglich.
Olivier Lambert hatte sein Debut als Paläocetologe 2010 mit der Beschreibung des atemberaubenden Pottwalfossils Livyatan melvillei aus der Peru Pisco-Formation gegeben, seitdem beschreibt er fleißig neue Fossilien.
Jetzt also der ersten Narwalfund aus der Nordsee!
Das neue Fossil stammt aus dem Pliozän und ist zwischen 3,6 und 5,5 Millionen Jahren alt.
Die gefundenen Teile des Schädels, der Wirbelsäule und der Rippen ordnen den klar bei den Narwalen ein. Narwale (Monodon monoceros) bilden gemeinsam mit ihren nächsten Verwandten, den Weißwalen (Beluga; Delphinapterus leucas ) die Familie der Monodontidae (Gründelwale) – sie suchen ihre Nahrung oft im schlammigen Meeresboden.
Ihre Schädel sind platter und breiter aus als die anderer Delphine, darum sind sie leicht zu erkennen. Außerdem sind die Gründelwale die einzigen Wale, deren Halswirbel frei beweglich sind – ihre Köpfe sind damit wesentlich beweglicher als die aller anderen Wale.
Einige typische Kratzer auf den fossilen Knochen zeigen, dass Haie daran geknabbert haben. Dieser Narwal ist also keine Strandung gewesen, sondern war zumindest noch eine Weile für Haie erreichbar, bis er schließlich auf dem Meeresboden von Sediment bedeckt wurde.
Die ältesten Narwal-Fossilien stammen aus dem Miozän – eine Zeit, in der sich die heuteigen Gruppen der Zahnwale entwickelt haben. Die großen Delphinverwandten stammen aus dem Pazifik-Raum, von dort aus sind sie auch in den Atlantik eingewandert, bis in die Nordsee. Vor dem Quartär und der letzten Eiszeit lag der Meeresspiegel der Nordsee höher, darum liegt die fossile Küstenlinie jetzt oberhalb der heutigen Küstenlinie.
Narwale gibt es wirklich!
Der Fossilfund ist für mich darum erwähnenswert, weil sich um diesen ziemlich kleinen Zahnwale eine Unmenge von Mythen und Legenden rankt, die ihn überlebensgroß machen.
Ihr „Horn“ wurde natürlich in früheren Zeit für das Horn des mystischen Einhorns gehalten. Das ist verständlich, schließlich hatten Menschen des Mittelalters keinen Zugang zu Tier-Dokus wie wir heute. Irritierend ist allerdings, dass wirklich viele Menschen den Narwal auch heute noch für eine Legende halten. Faszinierend ist, wie Personen, die im Internet ihre abstrusen Bemerkungen zu diesen Zahnwalen kundtun, sich nicht die 30 Sekunden Zeit nehmen, um kurz nach echten Informationen zu recherchieren. Der Wikipedia-Artikel und viele Videos würden dabei ja bereits genügen.
Mehr über die unterhaltsame Narwal-Verschwörung gibt es hier auf Meertext.
Bei dem „Horn“ des aktischen Zahnwals handelt es sich natürlich nicht um ein Horn, sondern vielmehr um einen Zahn. Bei erwachsenen Männchen wächst der linke Eckzahn im Oberkiefer zu einer langen, spiralig gedrehten Struktur aus – bis zu 2, 70 Meter lang! Selten entwickeln auch Narwal-Weibchen diesen besonderen Zahn, im Zoologischen Museum Hamburg ist ein solcher Schädel ausgestellt: Er trägt sogar 2 lange Zähne!
Mehr zur Biologie dieses hocharktischen Wals und über seinen geheimnisvollen Zahn gibt es hier.
Die Funktion des Zahns ist bis heute nicht ganz eindeutig geklärt. Manche Biologen meinen, diese Elfenbeinspirale würde die Schallwellen der Echolokation verstärken. Andere meinen, der Zahn würde bei den Kommentkämpfen der Männchen eingesetzt oder beim Erlegen der Beute helfen.
Ich habe mittlerweile den Eindruck, dass Narwale ihren Extrazahn als Multifunktionstool einsetzen, denn es gibt Videos sowohl vom Kommentkampf als auch vom Fressen. Das wäre logisch, denn Wale denken sich immer neue Strategien aus, wie sie am Besten an ihre Nahrung kommen, und geben dies als kulturelle Leistung auch an andere Artgenossen weiter.
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