Teil 1: Climate Fiction – Fakten und Fiktionen zur Klimakrise

Teil 2: #ClimateFiction – Spekulatives Storytelling hilft beim Verstehen der Klimakrise

Wo die Wissenschaft sperrige abstrakte Datenmengen produziert und nüchtern erklärt, können SF- und Cli Fi-AutorInnen die Kraft der Imagination einsetzen, und beim Verstehen & Bewältigen dieser schreckenerregenden Fakten helfen. Wo Klimatologie, Ozeanographie, Paläontologie, Geographie, Biologie, Chemie und Physik, Soziologie und andere Fachdisziplinen jeweils einen Teil der Krise erklären, können SchriftstellerInnen (und andere KünstlerInnen) diese Informationen zu den existierenden und möglichen Auswirkungen der Klimakrise allgemein verständlich erklären und zu einer inhaltlich plausiblen Geschichte zusammenfügen. Statt einem emotional bedrohlichen und überwältigenden „Monster“ aus Fakten gegenüber zu stehen, nehmen Cli Fi-ProtagonistInnen uns an die Hand und bewältigen gemeinsam die anstehenden Probleme.

Cli Fi-Geschichten spielen in einer von der Klimakrise gezeichneten Welt. Dennoch zelebrieren die AutorInnen nicht genüßlich die Dystopie, sondern stellen anwendungsorientierte Ideen aus ihrem Alltag vor. Sie bauen Brücken zum inhaltlichen und emotionalen Verstehen und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf.
Erzählungen sind Teil unserer Kultur, darum sind Geschichten für uns oft verständlicher als Fakten. So erleben wir an der Seite unserer HeldInnen, wie es werden könnte.

In den USA hatte 2014 das Smithsonian Magazine die interdisziplinäre Tagung “The Future Is Here: Science meets Science Fiction | Imagination, Inspiration and Invention” ausgerichtet. In den Vorträgen und Diskussionen aus Wissenschaft, Technik, Raumfahrt und Literatur trafen sich SF bzw. Cli Fi-AutorInnen, WissenschaftlerInnen, AstronautInnen und Angehörige anderer Berufsgruppen zum Austausch. Ein Thinktank zur Kommunikation der globalen Klimakrise mit führenden US-AutorInnen wie Kim Stanley Robinson, William Gibson, Ursula Le Guin, Ted Chiang und vielen anderen.

Die Zukunft ist ein sicheres Laboratorium zum Ausprobieren von Ideen und um über die Realität nachzudenken […]“ erklärte Ursula K. Le Guin im Smithsonian Magazine 2014. Eine literarische Experimentierstube! Die Autorin ist vor allem mit ihrer Erdsee-Reihe berühmt geworden und hat für ihre Werke u. a. den Nebula und Hugo-Award erhalten.
Die Aufgabe der Science Fiction ist also nicht, die Zukunft vorherzusagen, vielmehr geht es um die Auslotung möglicher plausibler Zukünfte.
Manchmal werden diese Zukünfte dann von der Realität eingeholt – eines der bekanntesten Beispiel ist William Gibson, der in den 1980-er Jahren den Begriff “Cyberspace” aufbrachte und verstörende Zukünfte einer hypervernetzten globalen Gesellschaft, in dystopischen Megacities unter der Herrschaft globaler Konzerne, wo Daten begehrte Ware und Machtinstrument gleichermaßen sind. Mensch und Technik sind dabei eng vernetzt, die Übergänge fließend und furchterregend. Dieser sogenannte Cyberpunk ist bedrückend aktuell.

Climate Fiction ist bunt, divers, kontrovers und politisch

Auch wenn Cli Fi schwierig zu definieren ist, da sie sehr unterschiedliche Gestalten annehmen kann, hat sie einige charakteristische Merkmale: sie ist divers und bunt, gegenwartsbezogen oder in der nahen Zukunft, oft kontrovers. Interdisziplinär tummelt sie sich in Natur- und Geisteswissenschaften, transmedial tritt sie in unterschiedlichen Medien auf. Sie ist anwendungsbezogen, hat Kontakte zur aufblühenden Maker-Szene und ist gleichzeitig didaktisch, denn ihre ProtgaonistInnen durchlaufen Lern- und Erkenntnisprozesse.
Und sie ist hochgradig politisch!

Das ist auch gerade daran zu bemerken, dass US-AutorInnen sich nicht mehr mit Schreiben begnügen, sondern sich wegen der derzeitigen bedrohlichen Situation auch zur Tagespolitik positionieren. Bei der US-Wahl 2020 geht es um nichts Geringeres als um den Erhalt der Demokratie an sich, um die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten für alle Bürgerinnen und auch um den Kampf gegen die Klimakrise im internationalen Verband. All dies ist zurzeit in den USA und anderen rechtspopulistisch regierten Staaten bedroht.

Octavia Butler – die Königin des Afrofuturismus

Eine frühe Vertreterin der Cli Fi, bevor es den Begriff überhaupt gab, war Octavia Butler, die ungekrönte Königin des Afrofuturismus.
Octavia Butler (1947 – 2006) wuchs in armen Verhältnissen im kalifornischen Pasadena auf, das schüchterne Mädchen fand früh Trost in Büchern und Büchereien und begann schon als Schülerin mit dem Schreiben. An der Highschool und der Universität entdeckten ihre Lehrer und Dozenten ihr außergewöhnliches Schreibtalent und förderten sie. Butler schrieb beharrlich weiter. In einem Interview gegenüber dem New Yorker im Juli 2017 erklärte sie, dass sie in Büchern Menschen wie sie selbst vermisst habe. HeldInnen waren weiß, Figuren anderer Hautfarbe traten nur auf, wenn ihre Hautfarbe unmittelbar etwas zur Story beitrug. Also schrieb sie sich selbst, eine afroamerikanische Frau, in ihre Bücher hinein – feministische und rassenpolitische Fragen waren ihr wiederkehrendes Thema. So wurde sie die erste bedeutende afroamerikanische SF-Schriftstellerin und Vertreterin des Afrofuturismus. Sie gewann zahlreiche Preise und wurde 1995 als erste afroamerikanische Frau mit dem Genius Award des MacArthur Fellows Program ausgezeichnet, der mit 295.000 Dollar dotiert war.

Sie schrieb über Dystopien der nahen Zukunft im Spätkapitalismus, gebeutelt von der Klimakrise, Waffengewalt und einer unregulierter Tech-Branche. Ihre Heldinnen leben oft in Sklaverei ähnlichen Arbeitsverhältnissen und in psychischer, sexueller oder ökonomischer Abhängigkeit, aus denen sie sich zu befreien versuchen. Auch religiöse Fanatiker kommen regelmäßig vor, damit hat Butler einen wichtigen Aspekt der US-Gesellschaft beschrieben, der sich stark vom europäischen Leben unterscheidet.
Octavia Butler produzierte Kurzgeschichten und Romane, als SF-Schriftstellerin wurde sie mit Auszeichnungen wie Hugo- & Nebula-Award geehrt.

Besonderen Ruhm erlangte sie mit Parable of a Sower (1993) (Die Parabel vom Sämann).
Die Geschichte spielt 2024Kalifornien leidet unter extremer Dürre und Wasserarmut als Folge des Klimawandels. Die Regierung ist handlungsunfähig, Schulen & Polizei sind privatisiert, die USA sind ökonomisch kollabiert. Wer es sich leisten kann, lebt hinter dicken Mauern zum Schutz vor den kriminellen Banden, die ohne Gnade rauben, vergewaltigen und morden. In dieser Welt wächst die fünfzehnjährige Lauren Oya Olamina als Tochter eines Baptistenpriesters auf.
Sie ist hyperempathisch und fühlt die Schmerzen anderer am eigenen Leib. Der Roman ist als Tagebuch der 15-jährigen Lauren Oya Olamina angelegt. Sie erfindet ihre eigene, darwinische Religion “Earthseed”. Als ihre kleine Gemeinde angegriffen und zerstört wird, macht sie sich auf eine gefährliche Reise nach Norden, um ihren Platz in dieser Welt zu finden.

1993 geschrieben, im Jahr 2024 angelegt, ist dieser Roman in vielen Aspekten von der Wirklichkeit eingeholt worden. Auch wenn er in einem dystopischen Umfeld spielt, ist er doch hoffnungsvoll: Die junge Heldin ergreift ihre Chance und macht sich auf, um nach einer besseren Zukunft zu suchen. Dabei wird sie zur Führerin einer ganzen Gruppe von Menschen.

Mit solchen Plots war Butler eine starke Stimme für feministische Science Fiction und Climate Fiction, die Klimakrise verwob sie mit sozialen Krisen. Ihre Bücher sind Meilensteine dieser Literaturgattungen mit Aufbruchsstimmung. 2006 starb sie mit nur 58 Jahren infolge eines Sturzes und konnte den dritten Band ihrer als Trilogie angelegte Parable of a Sower nicht vollenden.
Im September 2020 landete genau dieses Buch und damit erstmalig eines ihrer Werke auf einer Bestsellerliste der New York Times.

“It’s not climate change. It’s everything change”

“It’s not climate change. It’s everything change,” sagte die vielfach ausgezeichnete kanadische Schiftstellerin Margaret Atwood (*1939) gegenüber dem Smithsonian Magazine.

Die Stellung der Frau in der Gesellschaft ist ihr zentrales Thema, dabei nutzt sie auch Szenarien in der Zukunft. Darum wird sie oft als SF-Autorin bezeichnet, auch wenn sie selbst ihre Werke als Speculative Fiction bezeichnet. Allerdings, so Atwood, seien diese Begriffe nicht trennscharf.

The Handmaid´s Tale (Report der Magd) ist ihr bekanntestes Werk, es zeichnet eine düstere Zukunft in einem fanatisch religiösen totalitären Regime.
Als Umweltaktivistin vertritt sie die Auffassung, dass Begriffe wie „globale Erwärmung“ und „Klimawandel“ unsere Situation verharmlosen: „Sagen Sie nicht Klimawandel! Es ist eine Klimakrise, ein Notfall!“.

The Handmaid´s Tale spielt in den Vereinigten Staaten von Amerika in naher Zukunft: Radioaktive, chemische und bakteriologische Verseuchung haben zur Sterilität vieler Menschen geführt. Die christlich-fundamentalistische Gruppierung der Söhne Jakobs ermordet bei einem Staatsstreich den US-Präsidenten, alle Mitglieder des Kongresses und setzen die Verfassung außer Kraft. Die Streitkräfte rufen den Notstand aus, die Presse wird zensiert und Straßensperren werden errichtet. Die Republik Gilead übernimmt die Macht und errichtet ein totalitäres Regime, in dem Polizei und Geheimpolizei die Menschen überwachen. Das theokratische Regime setzt die Bürgerechte außer Kraft und unterdrückt insbesondere Frauen: Sie dürfen kein Eigentum besitzen und müssen sich vollständig unterordnen, ihr Besitz fällt an den nächsten männlichen Verwandten. Frauen haben nur noch die Pflicht, Kinder zu gebären und den Haushalt zu erledigen. In einem solchen Haushalt lebt der Magd Desfred (im Englischen: Offred). Die unglückliche und einsame Frau kann flüchten, ihr Schicksal bleibt offen.

„Im Anhang des Buches werden im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposiums über Gilead-Studien am 25. Juni 2195 Desfreds Erzählungen über ihr Leben historisch eingeordnet als ein seltenes Dokument – falls die Aufzeichnungen authentisch sind – aus der ersten Phase dieser Diktatur im 21. Jahrhundert. Inzwischen existiert dieser Staat nicht mehr und in verschiedenen Reinigungsphasen des Regimes wurden amtliche Dokumente vernichtet. Desfred muss vermutlich die Flucht gelungen sein. In einem Versteck hat sie ihre Erlebnisse auf 30 Tonbandkassetten gesprochen, die im ehemaligen US-Bundesstaat Maine ausgegraben wurden.“

Diese düstere Erzählung ist als Buch und vor allem als Verfilmung so erfolgreich gewesen, dass sie 2017 sogar noch als TV-Serie aufgelegt wurde.

Dass totalitäre Themen wie Atwoods The Handmaid´s Tale und Suzanne Collins’ The Hunger Games derzeit so erfolgreich sind, sagt viel über die Gegenwart aus.

Der US-Schriftsteller Kim Stanley Robinson erklärte im Interview, dass die Science Fiction die Hoffnungen und Ängste der Menschen für ihre Gegenwart oder nahe Zukunft abbilde – in den 1930ern, 1940ern und teils in  den 1950ern glaubten die Menschen an eine bessere Zukunft.Das sei jetzt anders: “Die Welt ist ein Durcheinander, wegen der Arschlöcher, die denken, dass sie alles stehlen können und damit davonkommen. Darum müssen wir sie schnappen und der Justiz zuführen.” Reiche Menschen nehmen sich neun Zehntel von allem und zwingen die anderen, um den Rest zu kämpfen. Darum sei Suzanne Collins’ The Hunger Games so populär. 

Diese Befürchtungen und die extreme soziale Ungleichheit haben in den USA sicherlich noch eine andere Dimension als etwa in Deutschland: In Deutschland gibt es durch die Sozialversicherungssysteme, ein überwiegend kostenloses Bildungssystem sowie durch eine gewisse staatliche Präsenz in vielen Lebensbereichen (noch) nicht ein so extremes, ausgedehntes  Verelendungsrisiko. Gleichzeitig wäre es in Deutschland oder einem anderen europäischen Rechtsstaat zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt undenkbar, dass ein Staatsoberhaupt wie in einer Kleptokratie die führenden Positionen nur mit MilliardärsfreundInnen und Mitgliedern des Familienclans besetzt.
Außerdem ist es in den meisten EU-Staaten deutlich besser um Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Sicherheit bestellt – auf deutschen Straßen ist es jedenfalls nicht üblich und alltäglich, mit halbautomatischen Waffen bewaffnete Zivilisten anzutreffen.
Dass US-AutorInnen aus gutem Grund einen etwas anderen Blick auf die nähere Zukunft haben, wird gerade in diesen Tagen vor der US-Präsidentschaftswahl 2020 sehr deutlich. Dass in einer westlichen Demokratie wie den USA überhaupt ernsthaft diskutiert werden muss, ob ein Präsident, falls er nicht wiedergewählt werden sollte, das Weiße Haus wieder zu räumen bereit ist, war noch vor wenigen Jahren unvorstellbar. Jetzt ist es Alltag.
Olivia Butlers spekulatives 2024 ist innerhalb weniger Jahre jedenfalls erschreckend weitgehend Realität geworden.

Fortsetzung:

Teil 3: #ClimateFiction – Die Stadt als Keimzentrum neuer Ideen

Teil 4: #ClimateFiction: #Solar Punk – die Dystopie ist abgesagt 

Teil 5: #ClimateFiction: #ElsterCon2020 – Fahrenheit 145: Science Fiction, Klimakrise und Gesellschaft

 

Kommentare (2)

  1. #1 MinkyMietze
    6. Oktober 2020

    Frage: Octavia Butler 2006 ist gestorben; wie konnte sie dann 2017 dem New Yorker ein Interview geben?

  2. #2 Bettina Wurche
    6. Oktober 2020

    @MinkyMietze: Das war kein Interview – sie ist posthum auf einer Bestsellerliste gelandet