Besonders ungewöhnlich ist die Mundstruktur, die sich von den anderen Anomalocariden erheblich unterscheidet: Aegirocassis benmoulai hatte an der Mundöffnung viele feine Fortsätze, die als Filtrierapparat interpretiert werden, ähnlich wie bei heutigen Bartenwalen oder Walhaien.

Aegirocassis ist aufgrund der Größe und der Plankton-Ernährung also ein ökologisch bedeutender Fund, sie steht für eine gewaltige klimatische und ökologische Umwälzung in den Meeren: die paläozoische Plankton-Revolution.
Die Entstehung großer Filter-Feeder ist ein Hinweis darauf, dass in den Ökosystemen nach dem „Great Ordovician Biodiversification Event“ auch große Mengen von Plankton die Meere bevölkerten. Dieser Event war, so Van Roy, der größte Artbildungsprozess in der Erdgeschichte (s. u.). Allerdings war es weniger ein Event, was eigentlich für einen eher plötzlichen Vorfall steht, sondern vielmehr ein längerer Zeitraum, der sich über Dekaden von Jahrmillionen hinzog. Also eher eine Transition.

Der Grund für diesen Big Bang der Biodiversität war SPICE – Steptoean Positive Carbon Isotope Excursion. SPICE war ein geologischer Vorgang am Ende des Kambriums (vor 500 Millionen Jahren): Während des Kambriums war der Sauerstoffgehalt in den Urmeeren zunächst immer geringer geworden, was auch zu einem Sauerstoffmangel in der Atmosphäre geführt hatte. Dies geschah offenbar im Kontext mit einer extremen Klimaveränderung. Der Grund dafür ist bislang nicht bekannt. Der Sauerstoffmangel führte zu einem massenhaften Artensterben im Meer. Dann kehrte sich dieser Trend plötzlich um, und der Sauerstoffgehalt in den Meeren stieg wieder an, ebenso der atmosphärische Sauerstoff – ein umgekehrter Treibhauseffekt. In den darauf folgenden gigantischen Umwälzungen ist es dann zur Ordovizischen Plankton Revolution gekommen.

Im Kambrium war die Schichtung der Wassersäule in den Meeren stabiler als heute – heute steigen Tiere in Vertikalwanderungen oft täglich zwischen verschiedenen Wasserschichten auf und ab. Das pflanzliche Phytoplankton bewohnt die oberflächennahen Schichten, weil es Sonnenlicht braucht. Tierisches Plankton und andere Tiere fressen Phytoplankton und nehmen beim Abtauchen einen Teil der Biomasse und Energie mit in tiefere Schichten – diese Umwälzung von Nährstoffen heißt Biologische Pumpe (diese Pump-Funktion habe ich hier am Beispiel der Wale detaillierter erklärt). Am Ende des Kambriums und zu Beginn des Ordoviz sollen die Schichten aufgrund des Planktonmangels zunächst weniger durchlässig gewesen sein. Bislang sind nur wenige Plankter aus dieser Zeit bekannt: Zysten, also Dauerstadien von Algen sowie durchgekaute Reste von Zooplanktern. Erst in der Ordovizischen Plankton Revolution ist die Artenzahl der mikroskopisch kleinen Wesen offenbar “explodiert”.
Damit, so die Hypothese, wurde auch die stabile Ozeanschichtung instabiler, es gelangten Nährstoffe auch in tiefere Wasserschichten, so wurde ein immer größerer Teil der Ozeane lebensfreundlich.
Mit dem zunehmenden Nährstoff-Angebot konnten auch größere Plankton-Filtrierer entstehen – wie Aegirocassis!

Das Video erzählt diese ganze Geschichte gut verständlich in Bild und Ton und ist wirklich sehr sehenswert.
Es gehört zur Reihe EONS von PBS, in der es noch viele andere verheißungsvolle Themen gibt.

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Kommentare (10)

  1. #1 Alderamin
    17. November 2020

    Superinteressanter Artikel, gerne mehr über die Tiere des Erdaltertums! 😀

  2. #2 Bettina Wurche
    17. November 2020

    @Alderamin: Danke für Dein Interesse – ich mag das ja auch. Aber es ist leider schwer verkäuflich.

  3. #3 RPGNo1
    17. November 2020

    Hier ist noch ein Fan der “erdalten” Meerestiere. 🙂

    Nachdem Martin Bäker leider keine paläontologischen Themen mehr behandelt, ist es schön, auf Meertext einen entsprechenden Artikel zu lesen.

    Hm, gibt es vielleicht irgendwo einen blogfreudigen Paläontologen, den Korandin für SB rekrutieren könnte? 😉

  4. #4 Bettina Wurche
    17. November 2020

    @RPGNo1: das freut mich : ) Ich habe auch Paläontologie studiert und habe auch Lust, darüber zu bloggen. Es ist bloß immer die Zeitfrage. De Facto habe ich gerade an einem ganz tollen Paläontologie-Projekt mitgearbeitet, da kann ich hoffentlich demnächst mehr zu schreiben. Außerdem folge ich auf Twitter einigen Paläontologen, die wirklich sehr spannende Sachen bringen. Ich behalte das also mal im Hinterkopf : )

  5. #5 Folke Kelm
    Schweden ohne viele tote Tiere. Alles kristallin hier.
    18. November 2020

    Spannend mit der Palöontologie. Unser alter Paläo- Professor wollte mich ja unbedingt als Diplomanden haben. Ich war der einzige Student damals, der als Nebenfach Zoologie belegt hatte. Der Grund war schlicht dass man nie reingekommen ist. Das zoologische Grundpraktikum war halt mit Bio Studenten immer voll. Ich hatte mich im dritten Semester einfach eingeschrieben, und irgendwie bin ich aufgrund meiner “Sauklaue” reingekommen. Man hat einfach Geo für Bio genommen. Hatte man das Grundpraktikum wars dann kein Problem mehr, man brauchte ja nur den Schein vorzeigen.
    Hier auf Gotland gibt es extrem interessante silurische Flachwassersedimente. Man kann ganze Lebensgemeinschaften unterschiedlicher Korallen, Trilobiten, Brachiopodenund Muschelkrebsen auf engstem Raum finden. Die Kalkmergel sind dazu noch nicht verfestigt. Eine gute Bürste und viel Wasser liefert faszinierende Einblicke in die damalige Landschaft. Nach Westen hin wo ich wohne, wirds immer älter und kristalliner. In meiner Gegend sind die Gesteine zwischen 1200 bis 1400 millonen Jahre alt und extrem metamoph überprägt. Demnächst machen wir hier mal eine Strukturgeologische Analyse, wird wohl eine Masterarbeit.

    @RPG
    Spritkopf hat mal in irgendeinem Kommentar gemeint ich sollte mal hier bloggen. Also, wäre schon lustig, alleine die Zeit……..

  6. #6 Aginor
    18. November 2020

    Möchte Alderamin und RPGNo01 beipflichten, Urtiere sind durchaus interessant.
    Wenn ich für das eine oder das andere entscheiden müsste, dann würde ich zwar lieber heutige als vergangene Tiere in Blogbeiträgen sehen, aber gerade wenn es so evolutionär interessante Lebewesen gibt wie diese, dann immer her mit den Fossilien!
    🙂

    Gruß
    Aginor

  7. #7 Uli Schoppe
    22. November 2020

    @Bettina

    @Alderamin: Danke für Dein Interesse – ich mag das ja auch. Aber es ist leider schwer verkäuflich.

    Eigentlich nicht. Nach kurzem Vorzeigen hat meine Kurze das selber lesen wollen. Auf dem Handy, wo auch sonst. ^^ Ich denke eher das die Menschen da nicht so leicht drauf stossen. Die wollen nicht nur Dinos. Was das Leben so in den letzten “paar Jahren” gemacht hat ist für jeden mit einem IQ über Brot eigentlich spannend…

  8. #8 Bettina Wurche
    22. November 2020

    @Uli Schoppe: Das freut mich. Dann dürfte ihr auch das Säbelzahnhörnchen gefallen
    http://blog.meertext.eu/2011/11/08/sabelzahnhornchen-%E2%80%93-gab-es-wirklich/

    Mit “verkäuflich” meinte ich, dass ich ja als Journalistin vom Verkauf von Artikeln lebe – und da sind bei Fossilien meist eher kurze Artikel zu Pressemeldungen gefragt. Ich finde aber, dass solch ein Fossil wie Aegirocassis nur in seinem größeren Kontext verständlich wird. Das ist zumindest für mich schwierig verkäuflich.

  9. #9 RPGNo1
    21. Dezember 2021

    Dem Gliederfüßer (Arthropleura) möchte ich heute nicht mehr begegnen: Ca. 2,70 m Länge und etwa 50 kg Gewicht? Brrr. 🙂

    https://www.spektrum.de/news/fossilien-autogrosser-tausendfuesser-machte-europa-unsicher/1963183

  10. #10 Bettina Wurche
    22. Dezember 2021

    @RPGNo1: Danke fürs Teilen! Ja, Arthropleura war ein richtig großer Prädator! Im Naturkundemuseum in Chemnitz habe ich mal Teile davon gesehen, ich fand das Tier gruselig. Hundertfüßer haben ja fiese Giftzangen, das möchte man sich bei einem 2,70-Tier gar nicht vorstellen. Schon das Gift dr viel kleineren heutigen Verwandten tut sehr weh, ich bin sehr wahrscheinlich mal gebissen worden. Nachts im Wald konnte ich den Übeltäter nicht identifizieren, aber Insekten und Spinnen konnten wir ausschließen.