Aegirocassis und die Plankton-Revolution – eine Geschichte aus dem Ordovizium.
Aegirocassis hatte mich 2015/2016 inspiriert, meinen ersten Wikipedia-Eintrag zu schreiben und natürlich auch dazu zu bloggen. Marine Paläoökologie und die Stammgruppe der Gliederfüßer im Erdaltertum sind schon recht spezielle Themen, das hatte mich gereizt. Eigentlich war das Tierchen damit für mich “erledigt”.
Nachdem mich jetzt vier Paläontologiebegeisterte auf dieses geniale Video aufmerksam machten, muss ich mich des Themas doch noch einmal annehmen. Das Video von EONS ist nämlich wirklich genial und lässt Aegirocassis und deren 470 Millionen Jahre alte Meereswelt zumindest teilweise wieder auferstehen.
Aegirocassis benmoulai war ein zwei Meter riesiges wirbelloses Meerestier aus dem frühen Ordovizium (485,4 bis 470 Millionen Jahre alt). 2015 Peter Van Roy, Allison C. Daley. und Derek E. G. Briggs ihre Untersuchung von Aegirocassis benmoulai veröffentlicht- der älteste Nachweis für einen „Filter-Feeder“. Die gleiche Ernährungsweise, die unsere heutigen Bartenwale satt macht (“Anomalocaridid trunk limb homology revealed by a giant filter-feeder with paired flaps”. Nature (Nature Publishing Group). doi:10.1038/nature14256).
Ihre Fundstelle “Fezouata” im heutigen Marokko ist ein Paradies für Fossilienfans, hier liegen die versteinerten Reste aus gleich mehreren Urmeeren. Diese Fezouata Biota sind aufgrund ihres Alters und der herausragenden Fossilerhaltung etwas ganz Besonderes: Sie sind eine Konservatlagerstätte – die Fossilien sind oft in größeren Teilen erhalten, mit versteinerten Weichteilen und dreidimensional! Ein großer Unterschied zu den geschredderten, plattgequetschten und in Einzelteile zerfallenen Versteinerungen, die man meistens so findet (mehr zur Fossilerhaltung steht hier).
Bei einer Grabung hatte der marokkanische Fossiliensammler Ben Moula den belgischen Spezialisten Peter Van Roy von der Universität Gent auf einen ungewöhnlichen Fossilfund aufmerksam gemacht. Van Roy war elektrisiert und organisierte eine Ausgrabung – mit phänomenalem Ergebnis! Die Forscher fanden vier Gattungen von Anomalocarididae, darunter einige dreidimensional erhaltene Stücke! Aegirocassis war davon die am besten erhaltene Art. Aber auch ein ausgezeichnet konserviertes Fossil muss noch aufwendig präpariert werden, gerade die Weichteilerhaltung und Dreidimensionalität ist eine Herausforderung, die Präparation dieses Fossils hat über 500 Stunden gedauert.
Anomalocariden sind aus den berühmten Burgess-Shales bekannt – Gliederfüßer-Vorfahren mit ungewöhnlichen, vorgestreckten und nach unten gezwirbelten Kopfanhängen. Ihre bekannteste Gattung ist Anomalocaris – die “ungewöhnliche Garnele” – war lange rätselhaft. Ihre Einzelteile sind zu unterschiedlichen Arten gehörend beschrieben worden: die Mundöffnung mit einem Irisblendenverschluß, die frontalen Tentakel und eine Rüsselstruktur sind erst 1985 von Harry B. Whittington and Derek Briggs zusammengeführt worden.
Anomalocaris ist mit ihren 60 bis 120 Zentimetern sehr groß, ihre meisten Verwandten sind wesentlich kleiner. Ihre hakenbesetzten Kopftentakel weisen auf eine räuberische Lebensweise hin – damit haben sie noch kleinere Meerestiere gegriffen. Anomalocaris ist mit ihren 60 bis 120 Zentimetern schon sehr groß. Neben den Burgess Shales stammen heute viele Funde dieser Zeit und mit Weichteilerhaltung auch aus der chinesischen Fossillagerstätte Chengjiang – im Video (s. u.) wird Lyrarapax trilobus erwähnt, so groß wie ein Kaugummistreifen (interessanter Größenvergleich).
Fast alle Anomalocariden des Kambriums Prädatoren, die bislang einzige bekannte Ausnahme ist Tamisiocaris borealis. T. borealis wurde in der nordgrönländischen Sirius Passet-Faunengemeinschaft gefunden und war mit ca 71 Zentimetern Länge das größte bisher gefundene Tier dieser Zeit. Aufgrund der sehr feinen Zähnchen an den Kopfanhängen hatten Vinther et al 2014 dieses Fossil als sehr frühen Suspension Feeder interpretiert (Vinther, J, Stein, M, Longrich, NR & Harper, DAT 2014, ‘A suspension-feeding anomalocarid from the Early Cambrian’, Nature, vol. 507, no. 7493, pp. 496-499. https://doi.org/10.1038/nature13010; DOI: 10.1038/nature13010). (Dieses Fossil war meiner Aufmerksamkeit entgangen, darum ergänzt am 17.11.).
Die Anomalocariden und auch Aegirocassis werden in die größere Gruppe der Radiodonta gestellt, die im Video auch erwähnt sind. Die Radiodonta sind frühe Vertreter der Stamm-Arthropoden. Das bedeutet, dass sich aus ihnen die späteren Gliederfüßler (Arthropoda) entwickelt haben, und sie einige, aber noch nicht alle Merkmale aufweisen:
Der Rumpf ist in Segmente gegliedert. Jedes Rumpfsegment hat je ein paar lappenartige Schwimmfortsätze am Rücken und am Bauch. Die „Bauchlappen“ sind homolog mit den Beinen, die „Rückenlappen“ mit den Kiemenstrukturen anderer Arthropoden. Diese Körperanhänge sind essentiell wichtige Merkmale aller Arthropoden und haben sich über Jahrmillionen zu sehr spezifischen Beinen, Scheren und Kiemen entwickelt. Die Paläontologen konnten aus dem Aegirocassis-Fund also wichtige Rückschlüsse auf die frühe Entwicklung der Gliederfüßer ziehen und damit die frühe Evolution dieser erfolgreichen Tiergruppe besser verstehen.
Besonders ungewöhnlich ist die Mundstruktur, die sich von den anderen Anomalocariden erheblich unterscheidet: Aegirocassis benmoulai hatte an der Mundöffnung viele feine Fortsätze, die als Filtrierapparat interpretiert werden, ähnlich wie bei heutigen Bartenwalen oder Walhaien.
Aegirocassis ist aufgrund der Größe und der Plankton-Ernährung also ein ökologisch bedeutender Fund, sie steht für eine gewaltige klimatische und ökologische Umwälzung in den Meeren: die paläozoische Plankton-Revolution.
Die Entstehung großer Filter-Feeder ist ein Hinweis darauf, dass in den Ökosystemen nach dem „Great Ordovician Biodiversification Event“ auch große Mengen von Plankton die Meere bevölkerten. Dieser Event war, so Van Roy, der größte Artbildungsprozess in der Erdgeschichte (s. u.). Allerdings war es weniger ein Event, was eigentlich für einen eher plötzlichen Vorfall steht, sondern vielmehr ein längerer Zeitraum, der sich über Dekaden von Jahrmillionen hinzog. Also eher eine Transition.
Der Grund für diesen Big Bang der Biodiversität war SPICE – Steptoean Positive Carbon Isotope Excursion. SPICE war ein geologischer Vorgang am Ende des Kambriums (vor 500 Millionen Jahren): Während des Kambriums war der Sauerstoffgehalt in den Urmeeren zunächst immer geringer geworden, was auch zu einem Sauerstoffmangel in der Atmosphäre geführt hatte. Dies geschah offenbar im Kontext mit einer extremen Klimaveränderung. Der Grund dafür ist bislang nicht bekannt. Der Sauerstoffmangel führte zu einem massenhaften Artensterben im Meer. Dann kehrte sich dieser Trend plötzlich um, und der Sauerstoffgehalt in den Meeren stieg wieder an, ebenso der atmosphärische Sauerstoff – ein umgekehrter Treibhauseffekt. In den darauf folgenden gigantischen Umwälzungen ist es dann zur Ordovizischen Plankton Revolution gekommen.
Im Kambrium war die Schichtung der Wassersäule in den Meeren stabiler als heute – heute steigen Tiere in Vertikalwanderungen oft täglich zwischen verschiedenen Wasserschichten auf und ab. Das pflanzliche Phytoplankton bewohnt die oberflächennahen Schichten, weil es Sonnenlicht braucht. Tierisches Plankton und andere Tiere fressen Phytoplankton und nehmen beim Abtauchen einen Teil der Biomasse und Energie mit in tiefere Schichten – diese Umwälzung von Nährstoffen heißt Biologische Pumpe (diese Pump-Funktion habe ich hier am Beispiel der Wale detaillierter erklärt). Am Ende des Kambriums und zu Beginn des Ordoviz sollen die Schichten aufgrund des Planktonmangels zunächst weniger durchlässig gewesen sein. Bislang sind nur wenige Plankter aus dieser Zeit bekannt: Zysten, also Dauerstadien von Algen sowie durchgekaute Reste von Zooplanktern. Erst in der Ordovizischen Plankton Revolution ist die Artenzahl der mikroskopisch kleinen Wesen offenbar “explodiert”.
Damit, so die Hypothese, wurde auch die stabile Ozeanschichtung instabiler, es gelangten Nährstoffe auch in tiefere Wasserschichten, so wurde ein immer größerer Teil der Ozeane lebensfreundlich.
Mit dem zunehmenden Nährstoff-Angebot konnten auch größere Plankton-Filtrierer entstehen – wie Aegirocassis!
Das Video erzählt diese ganze Geschichte gut verständlich in Bild und Ton und ist wirklich sehr sehenswert.
Es gehört zur Reihe EONS von PBS, in der es noch viele andere verheißungsvolle Themen gibt.
Kommentare (10)