Ich bin ein großer “Alice im Wunderland” und Lewis Carroll-Fan. Je mehr ich über ihn lese, desto interessanter finde ich den fantasievollen Autoren, Kunstphotographen, Mathematiker und Dozenten.
“Alice” ist eigentlich gar kein Kinderbuch, sondern eine fantastische Geschichte, die eine ganze Reihe von Spitzen gegen die damals regierende Königin Victoria und ihren Hofstaat enthielt. Charles Lutwidge Dodgson – so Carrolls bürgerlicher Name lebte und lehrte in Oxford. Mathematisch begabt, hatte er dort zunächst selbst Mathematik studiert, wurde dann Tutor und schließlich Dozent. Seine Fantasie und seine Liebe zur Literatur allerdiings lebte er in Gedichten und Geschichten aus.
Der erwachsene Mann freundete sich mit den Töchtern seines Dekans Liddell an und unternahm mit den Mädchen Lorina Charlotte, Alice und Edith Liddell unter anderem Bootstouren auf der Themse oder photographierte sie. Der empfindsame Mathematiker und Künstler fühlte sich in der Gesellschaft von Kindern offenbar wohler, als in der von Erwachsenen.
Dabei erzählte er ihnen selbst ausgedachte Geschichten. Die Geschichten hatten viele Bezüge zum echten Leben: So stand der Baum, in dem die Grinsekatze auftauchte, im Garten hinter dem Haus. Natürlich kamen auch die Mädchen, allen voran Alice, in den Geschichten vor. Außerdem soll Lewis Carroll an einer seltenen neurologischen Krankheit gelitten haben, die zu Halluzinationen und zur Fehleinschätzung der Größe der eigenen Person oder anderer Objekte führt: Todd´s oder Alice-in-Wonderland-Syndrom. Schließlich geht es im Buch umgenau solche Verzerrungen.
Auf die Bitte von Alice, der er besonders geneigt war, schrieb er die Geschichten schließlich für sie auf und illustrierte sie auch noch selbst – im November 1864 übergab er dieses kostbare Manuskript als Weihnachtsgeschenk an Alice.
Alice war erst acht Jahre alt, Carrolls Verhalten ihr gegenüber als obsessiv bezeichnet: Er verbrachte viel Zeit in ihrer Gesellschaft und photographierte sie in verschiedenen Gewandungen. Die Photographie war damal eine neue Kunstform und Carroll experimentierte damit, er pflegte vor allem zu den Präraffaeliten enge Verbindungen.
Kurze Zeit später zerbrach die Freundschaft allerdings, aus nicht geklärten Gründen. Die entsprechenden Seiten in Carrolls Tagebüchern sind nicht erhalten.
Manche Forscher unterstellen ihm pädophile Züge, andere vermuten, er habe Alices ältere Schwester heiraten wollen, allerdings vergeblich um deren Hand angehalten. Andere Carroll-Forscher meinen, dass diese Obsession der kindlichen Unschuld im viktorianischen Zeitgeist keine sexuelle Zuneigung, sondern nur sentimental war. Wir sollten uns hüten, aus heutiger Perspektive und vorschnell über das Verhältnis von Carroll und Alice zu urteilen. In der viktorianischen Zeit war das Verhältnis zu Sexualität ein vollständig anderes als wir es heute pflegen und auch anders, als es heute meistens kolportiert wird.
Seine Bücher “Alice im Wunderland” und “Alice hinter den Spiegeln” hingegen überdauerten die Freundschaft und sind heute Klassiker der Literatur. In der Druckausgabe von 1865 wurden Carrolls eigene Zeichnungen dann durch John Tenniels geniale Illustrationen ersetzt, die bis heute untrennbar mit dem Werk verbunden sind.
In der Herzkönigin oder der Roten Königin und ihrem Hofstaat hat Carroll den Spott der akademischen Kreise über Queen Victoria und ihren Hofstaat manifestiert. Als Tutor und Dozent musste er viele Schüler unterrichten, die weder an Mathematik interessiert noch dafür intelligent genug waren, und in Oxford als adlige und oder reiche Kinder bedeutender Männer dennoch einen Oxford-Abschluß machen sollten. Diese desinteressierten, minder begabten Personen waren natürlich auch im Hofstaat vertreten. Da offene Kritik Majestätsbeleidigung gewesen wäre, verewigte Carroll seinen Spott in Fantasie-Geschichten.
Queen Victoria hat das aber gar nicht übel aufgenommen, sondern ihn gebeten, seine nächste Geschichte ihr zu widmen.
Auf einen Wettlauf dieser Roten Königin mit Alice bezieht sich die evolutionsbiologische Hypothese der Roten Königin.
Red Queen-Hypothesis
Die Hypothese der Roten Königin besagt, dass die Evolution einer Art nicht nur im Zusammenhang mit ihrer Umwelt korrespondiert, sondern auch direkt mit den sie umgebenden Arten zusammenhängt. Eine Art entwickelt sich also in unmittelbarer Wechselwirkung mit anderen Arten.
Evolution ist eine Art Kopf-an-Kopf-Rennen.
Der Evolutionsbiologe Cockburn schreibt dazu: „Jede evolutive Angleichung an andere Arten kann durch die natürliche Selektion, die auf die Arten wirkt, aufgehoben werden. Van Valen (1973 a) verwendet daher die Metapher von der Roten Königin, um die biotische Evolution zu beschreiben. Eine ständige Veränderung ist notwendig, nicht um die Angepasstheit zu erhöhen, sondern um sie überhaupt aufrecht zu erhalten, genauso wie Alice und die Rote Königin rennen mussten, so schnell sie konnten, ohne irgendwo anzukommen.
[…]
Wir erwarten daher, dass in stabilen Habitaten im Laufe der Zeit Angepasstheit erreicht wird und daher ein evolutives Gleichgewicht vorherrscht. So ein Gleichgewicht wird jedoch durch die Evolution bei anderen Arten gestört, so dass physikalische Stabilität nicht zwangsläufig ein evolutives Gleichgewicht fördert.“ (Cockburn, s. u.)
Cockburn zitiert dabei Leigh van Valen (1973, s. u.), der die Metapher von der Roten Königin in einem Lehrbuch zur Evolution eingeführt hatte. Van Valen hatte 1973 seine Beobachtungen zum Überleben von Spezies mit Hilfe der Figur der roten Königin beschrieben.
Er bezog sich auf folgenden Passus im Buch:
„Wenn sie später darüber nachdachte, kam Alice nie dahinter, wie alles angefangen hatte: alles woran sie sich erinnern konnte war, dass sie Hand in Hand rannten und dass die Königin so schnell lief, dass sie alles geben musste, um mitzuhalten. Und trotzdem schrie die Königin ständig: „Schneller! Schneller!” Aber Alice hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr schneller rennen konnte, bekam aber nicht genügend Luft, um es zu sagen.
Das seltsamste dabei war, dass die Bäume und die anderen Dinge in der Umgebung nie ihre Position änderten: wie schnell sie sich auch immer bewegten, sie schienen nie irgendetwas überholen zu können. „Ich frage mich, ob sich alle Dinge mit uns bewegen“, dachte die verwirrte Alice. Und die Königin schien ihre Gedanken zu erraten, da sie schrie: „Schneller! Versuche nicht, zu reden!“
[…]… hier, [sagte die Königin] siehst du, musst du so schnell rennen wie du kannst, um auf derselben Stelle zu bleiben. Wenn du woanders hin willst, musst du zweimal so schnell rennen!“
„In einem evolutionären System ist ständige Entwicklung erforderlich, damit es seine Fitness relativ zu den Systemen halten kann, mit denen zusammen es sich entwickelt. Nicht die Umweltbedingungen setzen den Red-Queen-Effekt in Gang, sondern die Lebenskraft und der Überlebensdrang der Spezies selbst. Die Antilope muss schneller laufen lernen, um nicht vom Löwen erbeutet zu werden. Schnellere Antilopen erfordern die Entwicklung schnellerer Löwen usw. Die rote Königin und die anderen Lebewesen spornen sich beim Rennen also gegenseitig an. Jeder muss rennen, um nicht hinter den anderen zurückzufallen.“ wie Paul Bayer auf seinem Blog “wandelweb” ausführt.
Die Rote Königin ist eine schöne Metapher.
Sie erklärt sehr gut, dass eine Art nicht im Vakuum existiert, sondern immer im Beziehungsgeflecht mit anderen Arten.
Es geht also um ein evolutives Wettrüsten.
Mehr akademische Ehren, als ihm eine evolutionsbiologische Metapher zu widmen, kann man einem Oxford-Dozenten posthum kaum angedeihen lassen.
Tea with Alice
In England ist Carrolls Meisterstück bis heute sehr lebendig, Carrolls Werk wird bis heute in wissenschaftlichen Symposien gefeiert und es gibt Teegedecke in Anlehnung an “Alice im Wunderland”.
Anläßlich meines sehr runden Geburtstages vor eingen Jahren hatte ich tatsächlich eine “Alice and Mad Hatters Teaparty” veranstaltet, zu der alle Damen gewandet erschienen. Dafür habe ich echte englische Tee-Kultur gefertigt,
mich mit der Wissenschaft des perfekten Gurkensandwiches beschäftigt, aus in Deutschland erhältlichen Milch-Produkten eine akzeptable Clotted Cream für Scones und Erdbeermarmelade produziert und einen ganzen Nachmittag lang mein Patenkind zum bemalen von Keksen gedungen. Der Tee war natürlich Breakfast Tee und Lady Grey, die Limonadenflaschen trugen “Drink -me”-Schildchen und es fehlte nicht an Grinsekatzen und Uhren. Das englische Gedecke habe ich allerdings noch ergänzt um Quiche und Pasta-Salat, ich wollte nicht riskieren, dass jemand hungrig nach Hause gehen musste.
Das an das Gelage anschließenden Photoshooting auf der Streuobstwiese hat einige Wanderer höchst irritiert zu hemmungslosem Glotzen veranlaßt. Wir hatten jedenfalls Spaß.
Darum gibt es heute ausnahmsweise kein XMasOrnament sondern ein Photo eines Teils des Buffets.
Meine Tipps für die Feiertage:
- “Alice im Wunderland” und “Alice hinter den Spiegeln” noch einmal lesen
- eine Verfilmung schauen: Die Walt Disney-Verfilmung ist nett und kindgerecht. Tim Burtons Verfilmung mit ist weniger kindgeeignet, teils etwas verstörend – und hat mir extrem gut gefallen! Helena Bonham Carter ist als Rote Königin einfach hinreißend, Johhny Depp gibt einen wirklich verrückten Hutmacher ab.
Der 2. Teil davon lohnt sich eher nicht. - im Victoria & Albert Museum läuft gerade die Ausstellung “Curiouser and curiouser” – es geht um Alice. Ein digitaler Museumsbesuch lohnt sich sehr!
Quellen:
Bayer, Paul: wandelweb: „Die Rote Königin“, 4. December 2010 um 20:39
Cockburn, Andrew: “Evolutionsökologie” (1999)
van Valen, Leigh: “A new evolutionary law”. In: Evolutionary Theory. Band 1, 1973, S. 1–30.
Carroll, Lewis: ”Through the Looking-Glass, and What Alice Found There” (1871), Fortsetzung von “Alice’s Adventures in Wonderland (commonly shortened to Alice in Wonderland) ,1865. Ein phantastisches Buch aus der Feder des Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson, Dozent in Oxford, veröffentlicht unter dem Pseudonym Lewis Carroll.
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