Zwei Gewöhnliche Schweinswale (Phocoena phocoena)

Zwei Gewöhnliche Schweinswale (Phocoena phocoena) (Wikipedia; Ecomare/Sytske Dijksen – Ecomare; harbour porpoises Michael & Jose in 2012, Ecomare)

„Aus den Augen aus dem Sinn – wie der Schutz der europäischen Schweinswale versagt“ – Out of sight, out of mind: how conservation is failing European porpoises“ ist der Titel einer neuen Studie zur Effektivität des Walschutzes in der EU.
Ida CarlenLaetitia Nunny und Mark P. Simmonds` Fazit: Ein Versagen des Schweinswal-Schutzes in europäischen Gewässern. Gerade das deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) verhindert gezielt die Umsetzung von internationalen Abkommen und ignoriert wissenschaftliche Erkenntnisse – dadurch ist der Ostsee-Schweinswal akut vom Aussterben bedroht.

Wale sind langlebige Säugetiere und Prädatoren, sie werden relativ alt und haben nur eine begrenzte Fortpflanzungsrate – wahrscheinlich bekommen die Weibchen nicht einmal jedes Jahr ein einziges Kalb, das dann viel Zuwendung braucht.
Obwohl viele Menschen Walschutz als wichtig betrachten und ihn befürworten, sind ausgerechnet unsere einheimischen Schweinswale (Phocoena phocoena) nur wenig in der Öffentlichkeit bekannt. Klein, meist unsichtbar und eher unspektakulär bleiben sie hinter den bekannteren Delphinen (Große Tümmler) oder Buckelwalen zurück.
Sie haben mich mein ganzes Biologen-Leben lang begleitet, seit Beginn der 90-er Jahre – damals habe ich an den Synchronzählungen auf Sylt teilgenommen, die letztendlich zum heutigen Walschutzgebiet führten. Darum haben sie einen festen Platz auf Meertext.
Heute stelle ich eine brandneue Publikation vor, die analysiert, warum es mit dem Schweinswal-Schutz in Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen bisher so schlecht geklappt hat, welche unrühmliche Rolle dabei das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft spielt und warum es jetzt einen Hoffnungsschimmer gibt.

Schweinswale – kleine Wale in großer Gefahr

Der kleine Zahnwal ist der häufigste Wal in europäischen Gewässern und lebt auch in Nord- und Ostsee, mehr zu seiner Biologie ist hier.
Als kleiner, küstennah lebender Wal hat er in industrialisierten Küstengewässern keine guten Überlebenschancen, die menschliche Nutzung bringt viele Gefahren und Probleme mit sich:

  • Lärm durch Schifffahrt und Infrastruktur-Bau und -Betrieb (Windfarmen)
  • Starke Belastung der Küstenmeere durch Schadstoffe (PCBs, …), die das Immunsystem schwächen und die Fortpflanzungsfähigkeit mindern
  • Fischerei – sie sterben in den Netzen und konkurrieren um Fische

Populationen anderer Schweinswalarten (Familie Phocoenidae) in anderen Regionen der Welt sind ebenfalls bedroht, teilweise stehen sie kurz vor dem Aussterben: Das bekannteste Beispiel ist der Vaquita oder Kalifornische Schweinswal im Golf von Kalifornien (Phocoena sinus).
Carlen und ihre Mitautoren diskutieren die häufigsten Bedrohungen und Faktoren, die die Schweinswalpopulationen global beeinflussen, und geben Empfehlungen.

Wie der Schweinswalschutz in Europa begann

1960/61 verhedderten sich in den Nylonnetzen der Ostsee-Lachsfischer innerhalb einer einzigen Saison 50 Schweinswale. In den 1970 ern waren es innerhalb von sieben Jahren nur noch acht Exemplare. Damit war klar: Dieser Kleinwal-Bestand war offensichtlich eingebrochen und die Fischerei hatte damit zu tun hat.
Dieses Phänomen war auch in anderen Meeren zu beobachten – nach einer sehr hohen Anzahl der Kleinwalen im Beifang (Arten, die zwar gefangen werden, aber nicht die Zielart sind), nahmen sie stark ab. Aus einem überall häufigen Meeressäuger wurde ein seltenes Tier. Allerdings konnte niemand sagen, wie selten, denn es gab keine Bestandszahlen.
In den USA und Kanada gab es daraufhin die ersten Überlegungen zum Schutz der kleinen Meeressäuger.

In Europa begann der Schweinswalschutz in den späten 1980-ern in England: Erste Hinweise auf einen starken Rückgang der Kleinwale führten zu der Erkenntnis, dass man für Management und Schutz erst einmal Basisdaten braucht. Die lagen nicht vor und so begann in den 90-er Jahren die Erforschung dieser kleinen Meeressäuger – auch in Deutschland.
1991 wurde das regionale Abkommen zur Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee, des Nordostatlantiks und der Irischen See, abgekürzt ASCOBANS (englisch: Agreement on the Conservation of Small Cetaceans of the Baltic, North East Atlantic, Irish and North Seas) verabschiedet, das 1994 in Kraft trat.

Erste belastbare Daten für die deutsche Nordsee lieferten die Synchronzählungen der Schutzstation Wattenmeer auf Sylt – 1992 habe ich dort meine ersten Schweinswale gesichtet, am Strand sitzend konnten wir die kleinen schwarzen Dreiecke der Finnen (Rückenflossen) beobachten, darunter ein Mutter-Kind-Paar. Hier ist später das erste Walschutzgebiet Europas eingerichtet worden.
Dann kamen weitere Forschungsprojekte wie das des FTZ (heute: ITAW) in Büsum für die Schleswig-Holsteinische Nord- und Ostsee und in Stralsund (Meeresmuseum) für die Mecklenburg-Vorpommern´sche Ostsee.

Darum wissen wir heute deutlich mehr:
Schweinswale sind wie alle Wale sind wandernde Arten, d. h., sie leben nicht immer innerhalb eines definierten Gebiets. Stattdessen wandern sie, im Laufe eines Tages, eines Jahres und innerhalb längerer Zeiträume. Das macht ihren Schutz nicht einfacher, denn natürlich überqueren die Meeressäuger Grenzen, so dass ihr Schutz innerhalb mehrerer Staaten abgesprochen werden muss.

Wer bin ich und wenn ja wie viele?

Global ist die Art Schweinswal – Phocoena phocoena – nicht vom Aussterben bedroht, sein IUCN-Eintrag lautet LC – Least concerned.

Schweinswale sind die häufigsten Wale in europäischen Gewässern, von Grönland bis in die Ostsee, von der Barents-See und Island bis nach Frankreich, Spanien und Portugal und im Schwarzen Meer – die Kleinwale leben in 24 europäischen Staaten!
Vermutlich gibt es ca 16 verschiedene Populationen allein in der Nord-West-Atlantischen Region mit ihren Nebenmeeren (Evans, 2020).

Auch wenn alle Schweinswale zur gleichen Art Phocoena phocoena gehören, unterscheiden sich die Unterarten und Sub-Populationen/Bestände durch

  • ihr Verhalten,
  • ihre Kommunikation (sie klicken Dialekte) und auch
  • morphologisch (Körpermerkmale) und genetisch.

Sie pflanzen sich darum nur innerhalb eines solchen Bestands fort – ein Bestand ist eine Fortpflanzungsgemeinschaft.
Darum müssen beim Artenschutz solche Bestände jeweils für sich betrachtet werden.
So kommt es, dass für die einzelnen Schweinswal-Bestände und -Unterarten unterschiedliche Gefährdungsstufen auf den Roten Listen gelten.

Akut vom Aussterben bedroht sind die kleinen Populationen in der Ostsee, im Schwarzen Meer und im Mittelmeer sowie in iberischen und portugiesischen Gewässern im Nordostatlantik. Damit würden ihre genetischen Varianten erlöschen.

Phocoena phocoena-Unterarten: (Subspecies)

  • P. phocoena (Atlantic harbor porpoise),
  • P. vomerina (Pacific harbor porpoise) – für Europa irrelevant
  • P. relicta (Black Sea harbor porpoise).

Mittlerweile gibt es Hinweise auf zwei weitere Unterarten in Europa:

  • P. meridionalis (Fontaine, 2016) vor der Iberischen Halbinsel und Mauretanien
  • P. ? ( West Greenland (Nielsen et al., 2018; NAMMCO, 2019).

Diese Unterarten sind dann wieder unterteilt in Bestände (Populationen, Stocks) – nur innerhalb dieser Gruppen kommt es zur Fortpflanzung.

In deutschen Gewässern leben Schweinswale aus drei unterschiedlichen Beständen:

  • Nordsee (Southern North Sea),
  • Westliche Ostsee/Kattegatt (Beltsea/Kattegatt) und
  • Zentrale Ostsee (Baltic Proper).

Ergebnisse der Flug-Zählungen im SCANS-Projekt (Small Cetacean Abundance in the North Sea):

345.000 – 630.000 deutsche, dänische, niederländische, englische Nordsee
42.300 Kattegatt, Beltsee (Westliche Ostsee – dänische, schwedische, deutsche Ostsee)
300 Zentrale Ostsee (Baltic Proper – deutsche, schwedische, polnische Ostsee)

Das SCANS-Projekt wird von allen EU-Nordsee-Anrainern gemeinsam durchgeführt, bisher gab es drei Surveys: 1994, 2005 und 2016.
Diese Flug-Zählungen (Line Transect Surveys) haben die besten und umfassendsten Schätzungen erbracht, die es zurzeit gibt. Dazu kommen noch meist jährliche nationale Surveys, die von jedem Staat einzeln durchgeführt werden. In der Ostsee werden akustische Surveys durchgeführt (SAMBAH).

Walschutz ist kompliziert

Europäische Wale und ihre Lebensräume sind von einer ganzen Reihe internationaler und regionaler Übereinkommen und Abkommen, EU-Recht und nationaler Gesetzgebung „stark geschützt“. In der Praxis hat dieser Rechtsschutz jedoch keinen effektiven Schutz bewirkt. Die extra für den Schweinswalschutz eingerichteten SACs (Special Areas of Conservation – Umsetzung der europäischen Natura2000-Vorgaben) sind zwar in einigen Meeresgebieten/ -ländern Länder ausgewiesen worden. Allerdings werden erst jetzt (ab 2020) allmählich Bewirtschaftungspläne in Kraft gesetzt, die ein konkretes Schweinswal-Management mit Zielvorgaben ermöglichen. Vorher waren die Ziele abstrakt formuliert, ohne Ziele.

„Die Bemühungen um Erhaltung und Management sind in einen komplizierten Zusammenhang (Nexus) von Interaktionen verwickelt, der ein Netz von Verpflichtungen im Rahmen internationaler Übereinkommen und Abkommen, europäischer Umweltgesetze und europäischer Fischereipolitik umfasst. Das öffentliche Desinteresse, der mangelnde politische Wille zur Umsetzung von Erhaltungsmaßnahmen und komplizierte Fragen im Zusammenhang mit der Fischerei behindern jedoch echte Fortschritte.“ schreiben Ida Carlén1,2, Laetitia Nunny 3 and Mark P. Simmonds 4,5* in „Out of Sight, Out of Mind: How Conservation Is Failing European Porpoises”.

Der komplexe Nexus sind internationale Gesetze und Abkommen, das EU-Umweltrecht und EU-Meeresschutz sowie die EU-Fischerei-Politik – unterschiedliche Zuständigkeiten, Ziele und Lobbygruppen verhindern einen effektiven Meeresschutz (Anekdote am Rande: Meine Anfragen vom August 2020 bezüglich der Umsetzung des Walschutzes an die entsprechenden Ministerien in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sind bis heute nicht beantwortet worden).

In Deutschland wird die Interessens-Kollision aus Umweltschutz und Landwirtschaft/Fischerei gerade beim Zankapfel Insektenschutz exemplarisch vorgeführt: Kanzlerin Merkel hatte die Umwelt-Ministerin Schulze und die Landwirtschafts-Ministerin Klöckner gerade aufgefordert, sich endlich auf einen Kompromiß zu einigen.
Das Klöckner-Ministerium vertritt neben der Landwirtschaft auch die Interessen der Fischerei. Da Großwale traditionell unter „Fischerei“ fielen, liegt auch die Zuständigkeit für die Kleinwale im BMEL. Mit katastrophalen Auswirkungen auf den deutschen Kleinwalschutz bis in wissenschaftliche Gremien hinein.

Ostsee-Schweinswale – unter 300 Individuen?

Der Nordsee-Bestand schien bislang stabil zu sein, allerdings scheinen die Tiere in den letzten Jahren aus deutschen Gewässern zu verschwinden. Woran das liegt, weiß zurzeit noch niemand. Ob sie durch den massiven Ausbau der Windenergie mit seinem Dauerlärm im laufenden Betrieb verscheucht oder von nach Süden wandernden Nahrungsbeständen gelockt werden, muss noch geklärt werden.
Allerdings sterben die Schweinswale hier mit etwa 3,5 Jahren, was sehr jung ist.

Wesentlich schlechter sieht es in der Ostsee aus – dort sterben die Schweinswale durchschnittlich mit 2 Jahren – die meisten erreichen nicht einmal die Geschlechtsreife.
Ganz besonders schlecht steht es um den Bestand in der Zentralen Ostsee:

Trotz umfangreicher Schutzmaßnahmen ist der baltische Schweinswal der zentralen Ostsee (Proper Baltic Sea mit einer Population von nur wenigen Hunderten Tieren „vom Aussterben bedroht“.

Die kleinen Wale haben in der Ostsee keine natürlichen Feinde, sind aber schon immer gejagt worden, im 19. Jahrhundert war es vor allem für Öl. Das dürfte die einst riesigen Walvorkommen deutlich dezimiert haben, die historischen Fangzahlen von vielen Hundert Tieren durch jede Schweinswal-Jäger-Community belegen viele Hundert Fänge jährlich. Eine direkte, koordinierte Bejagung findet jetzt aber seit vielen Jahrzehnten nicht mehr statt.

Gefahren für die Schweinswale in der Ostsee sind:

  1. Fischerei
    Da die Kleinwale hinter den gleichen Fischen her sind, wie auch Fischer, gab es immer Interessenskollisionen. Vor allem die Stellnetze, die ja über längere Zeit hinweg am Meeresboden verankert stehen, sind für die Meeressäuger eine große Gefahr.
    Außerdem besteht eine direkte Nahrungskonkurrenz zwischen den Walen und den Fischern: Die überfischte Herings- und Dorsch-Bestände dürften sich auch auf die Ernährung der Wale auswirken. Wenn sie statt weniger fetter, großer Fische mehr kleine, wenige nährstoffreiche fangen müssen, ist der energetische Output schlechter.
  1. Das Binnenmeer Ostsee ist schwer schadstoff-belastet, unter anderem mit PCB.
    Diese Schadstoffe schwächen das Immunsystem und mindern die Fortpflanzungsfähigkeit.
  1. Lärmbelastung durch Schifffahrt und Offshore Windparks
    Die Ostsee ist ein dicht befahrenes Meer.
    Die Geräuschkulisse an Schifffahrtsstraßen unterbricht die Jagd der kleinen Wales und setzt ihren Jagderfolg deutlich herab. Da sie eigentlich, um satt zu werden, den ganzen Tag jagen müssen, ist jede Unterbrechung schlecht für sie und eine Minderung ihrer Fitness.
    Auch der Ausbau der Windenergie hat Auswirkungen auf die kleinen Wale: Bei den Rammarbeiten für die Windkraftanlagen-Fundamente sind zwar lärmmindernde Blasenschleier eingesetzt worden. Aber auch der Betrieb der Plattformen und ihre Versorgung ist immer noch eine stetige Störungsquelle für die Kleinen Wale. Möglicherweise werden sie dadurch aus Gebieten sogar ganz vertrieben.

Seit den 2000 er Jahren haben zunächst Polen, dann Deutschland und Dänemark und 2016 zuletzt auch Schweden SAC-Walschutzgebiete ausgewiesen, allerdings sind in diesen Gebieten weiterhin Fischerei, Schifffahrt und sogar Kiesabbau erlaubt. Seitdem sind viele wissenschaftliche Publikationen erschienen und viele Forschungen durchgeführt worden.
Aber: Erst jetzt allmählich werden auch Managementpläne erstellt, in denen der Schutz-Erfolg mit Zielen und Zahlen definiert wird. Darum dümpelt der Schweinswal-Schutz nicht nur in der Ostsee vor sich hin.

Ein wirksamer Schutz wird immer wieder durch die Forderung nach mehr und belastbaren Daten behindert. Besonders unrühmlich hat sich dabei das deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hervorgetan:

Hier die wichtigsten Schein-Argumente des BMEL gegen einen effektiven Schutz der Ostsee-Schweinswale und die Widerlegungen von Ida Carlen et al (die auf Dutzenden wissenschaftlicher Studien dazu beruhen):

1. BMEL: „Die Schweinswale in der zentralen Ostsee sind gar keine eigene Population“

Carlen, et al: Doch, natürlich!
Sie sind genetisch, morphologisch und durch zeitlich-räumliche Aufenthaltsgebiete klar getrennte Fortpflanzungsgemeinschaften.
Auch wenn sich die Aufenthaltsareale der Baltic Proper- und Kattegatt/Belt-Tiere im Winter teilweise überschneiden: Zur Paarung und Geburt im Frühling und Sommer sind sie dann klar getrennt. Die Tiere der westlichen und zentralen Ostsee könnten sich also gar nicht paaren.

2. BMEL: „Der Schutz des Ostsee-Schweinswals würde das Ende der traditionellen Fischerei mit kleinen Booten und Stellnetzen bedeuten.“

Carlen, et al: Nein. Aber es wird Zeit, endlich anderer Fischereitechniken zu entwickeln. Die bisherigen Stellnetze sind eine Bedrohung für viele Arten wie Meeressäuger (Wale und Robben) und Seevögel. Daher müssen wir alternative Fangmethoden entwickeln und einsetzen, die Beifang vermeiden. Außerdem sollten, wo es sinnvoll erscheint, ADDs (Acoustic Deterrent Devices – Akustische Vergrämer, “Pinger”)  eingesetzt werden, wie es u. a. auch ICES (2020) empfiehlt.
Allerdings  muss sichergestellt werden, dass diese auch wirklich funktionieren – das ist bisher nicht überall geschehen.

3.       BMEL: Ein flächendeckender Einsatz von ADDs (Acoustic Deterrent Devices – Akustische Vergrämer, “Pinger”) würde einen großen Teil des Lebensraums der Schweinswale beschallen und Störungen und Verhaltensreaktionen hervorrufen, die negative Auswirkungen auf die Population haben könnten.
Carlén et al: ADDs könnten Schweinswale stören und die Futtersuche, Aufzucht– und Paarungsverhalten unterbrechen oder sogar verhindern. Weitere Untersuchungen der vorhandenen Pinger (PAL) sind dringend erforderlich, um diese Wechselwirkung noch besser zu verstehen. Sofern wir nicht bereit sind, die Stellnetzfischerei vollständig einzustellen und keine Beifang-vermeidenden Fangtechniken zum Einsatz kommen, werden wir nur die Wahl zwischen tödlichen Beifängen und Vergrämung haben – ob per ADDs oder anderen Methoden.

(Anmerkung: Das Thünen-Institut für Ostsee-Forschung hat einige vielversprechende Ansätze für neue, Beifang vermeidende Fangtechniken entwickelt – STELLA – für deren Erprobung müssten allerdings wesentlich mehr finanzielle Unterstützung bereitgestellt werden. Für die Funktionsfähigkeit der PAL-Pinger liegen bisher nur Resultate des Herstellers vor – unabhängige wissenschaftliche Studien wären dringend nötig  – Meertext)

4.       BMEL: „Die Populationsgröße in der Ostsee hat im letzten Jahrzehnt zugenommen – es gibt mehr Schweinswale in der Ostsee“

Carlen et al: Darauf gibt es keine Hinweise! Für die Zentrale Ostsee liegen nur die Daten aus dem SAMBAH-Projekt vor: ca 300 Tiere (SAMBAH, 2016). Damit ist dieser winzige Bestand akut bedroht (Evans, 2020). Es gibt keine zweite Zählung, darum kann man auch keinen Trend ableiten.

Auf vereinten Druck von NGOs ist in Deutschland endlich Bewegung in die Sache gekommen, BUND, NABU, WWF u. a. Naturschutzverbände hatten im Januar 2018 eine umfangreiche Stellungnahme zu den unzureichenden deutschen Meeresschutzgebieten und dem mangelhaften Schweinswalschutz an die Bundesregierung gesendet.

Ein Hoffnungsschimmer ist, dass die jüngsten Empfehlungen der IWC (International Whaling Commission) (s. o.) und des Internationalen Rates für die Erforschung der Meere (ICES) eine neue wissenschaftliche Grundlage für Erhaltungsmaßnahmen zur Bekämpfung des Beifangs der Fischerei in der Schweinswalpopulation der Ostsee bilden.

Sonderfall Grönland

International ist Walfang in den meisten Staaten heute verpönt und oftmals durch nationales Recht verboten – wie in der EU. Dennoch werden Schweinswale in Westgrönland ohne Quoten oder Schonzeiten gejagt.
Grönland gehört zwar zu Dänemark, hat aber einen Sonderstatus

Per Referendum haben sich die Grönländer 1982 gegen einen Verbleib in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entschieden und ihren EG-Austritt beschlossen – am 1. Januar 1985 Inkrafttreten trat der Grönland-Vertrags in Kraft. Grönland genießt in der EU allerdings weiterhin den zollrechtlichen Status eines „assoziierten überseeischen Landes“

Gerade beim Schutz der Meeressäuger stehen sich das EU-Recht und grönländisches Gewohnheitsrecht konträr gegenüber: In grönländischen Gewässern werden Wale und Robben bejagt.
Die Großwaljagd ist durch das Walfang-Moratorium geregelt, nicht jedoch die Jagd auf Kleinwale – Schweinswale, Weißwale und Narwale. Für Inuit gehört diese Jagd zum Brauchtum. Problematisch ist, dass es dafür weder Quoten noch andere Zahlen gibt.

 Fazit

Bereits in den 1980-er Jahren war klar, dass die Fischerei eine der größten Gefahren für Kleinwale bedeutet.
Seit dieser Zeit hätte man

  • beifangarme Fischereigeräte entwickeln können
  • geeignete Pinger (akustische Warnsysteme) entwickeln können oder
  • Fischereien mit hohem Beifang schließen können.

Über 30 Jahre Schweinswalschutz haben in Europa und auch gerade in deutschen Gewässern nichts gebracht. Stattdessen ist der Schweinswal in der Zentralen Ostsee stärker denn je vom Aussterben bedroht. Beifang ist zwar nicht die einzige Gefahr, aber die einzige, auf die wir aktuell Einfluß haben – eine Verringerung der Schadstofflast der Meere oder ein Schifffahrtsverbot sind unrealistisch.

Die europäische Gesetzgebung stellt den Schweinswal ganz klar unter Schutz, sie wird aber national nicht umgesetzt. Das muss jetzt endlich geschehen! Wichtig ist dabei die Beachtung der jeweiligen regionalen Umstände.
Außerdem sollte der Schweinswal mit geeigneten Maßnahmen auch stärker ins Licht der Öffentlichkeit rücken, damit mehr Menschen ihn kennen lernen und seinen Schutz für wichtig halten.

Quelle:

Ida Carlén1,2, Laetitia Nunny 3 and Mark P. Simmonds 4,5*: “Out of Sight, Out of Mind: How Conservation Is Failing European Porpoises”
Coalition Clean Baltic, Uppsala, Sweden, 2 Department of Zoology, Stockholm University, Stockholm, Sweden, 3Wild Animal Welfare, Barcelona, Spain, 4 School of Veterinary Science, University of Bristol, Bristol, United Kingdom, 5 Humane Society International, London, United Kingdom

Anmerkung: Ida Carlén, Laetitia Nunny und Mark P. Simmonds sind ausgemachte Schweinswal-Experten und arbeiten schon lange in diesem Themenkomplex.

 

Kommentare (3)

  1. #1 libertador
    11. Februar 2021

    “Infrastruktur-Bau und -Betrieb (Windfarmen)”

    Gibt es da Untersuchungen dazu? Insbesondere was den Lärm im Betrieb angeht, fände ich es interessant wie groß die Lärmeintrage sind.

  2. #2 Bettina Wurche
    11. Februar 2021

    @libertador: Der Bau von Windfarmen mit den Ramm-Arbeiten muss mittlerweile in der Nordsee mit Blasenschleiern abgemildert werden, das schein zu funktionieren. Die Windfarm-Betreiber haben das zumindest teilweise auch freiwillig für die Ostsee übernommen.
    Dazu gibt es einen ganzen Stapel Literatur, das Ergebnis war dieses Gutachten:
    https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/meeresundkuestenschutz/Dokumente/Noise-mitigation-for-the-construction-of-increasingly-large-offshore-wind-turbines.pdf
    und das Schallschutz-Konzept des BfN:
    https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/awz/Dokumente/schallschutzkonzept_BMU.pdf
    (Da ist jeweils viel Literatur zitiert. Allerdings hatte Frau Hendricks es für die Ostsee ebenfalls noch verabschieden wollen, dazu kam es leider nicht mehr)

    Im laufenden Betrieb fallen keine Rammarbeiten an, darum gibt es dazu keine Regelungen.
    Bislang herrschte dazu die Meinung, dass der laufende Betrieb für die Kleinwale kein Problem sei:
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5677494/

    Die Windfarmen selbst und die Turbinen-Geräusche scheinen auch kein Problem zu sein:
    https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19507958/

    Letztes Jahr habe ich bei Recherchen und im Gespräch mit einer Schweinswal-Forscher-Gruppe allerdings erfahren, dass es zumindest aus der Schleswig-Holsteinischen Nordsee jetzt doch Probleme gibt:
    Die Wale verschwinden gerade aus deutschen Gewässern:
    http://docs.dpaq.de/17231-fmars-07-606609.pdf
    Gleichzeitig berichteten diese Walforscher, dass es zumindest in/um einige/n Nordsee-Windfarben eine sehr hohe Lärm-Belastung (Zitat: “Höllenlärm”) gibt, vor allem durch Versorgungsschiffe. Diese Beobachtungen sind bis jetzt persönliche Kommunikation und noch nicht publiziert. Für belastbare Daten müssten jetzt Hydrophonketten aufgebaut u ausgewertet werden, dafür gibt es zurzeit noch keine Mittel. Die Publikation dürfte also noch etwas auf sich warten lassen.
    Es wäre jedenfalls eine plausible Erklärung, warum die Schweinswale jetzt ihr eigentliches Kern-Areal verlassen.
    Ich hoffe sehr, dass es bald Projektmittel und dann auch publizierte Daten gibt.

    Da Schweinswale Schiffsrouten meiden, halte ich diese Aussage für belastbar.

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