Im 19. Jahrhundert war die Pottwal-Jagd im Pazifik ein großer Industriezweig vor allem amerikanischer Walfänger. Herman Melville hat den Walfängern und den Pottwalen (Physeter macrocephalus) mit seinem legendären „Moby-Dick“ ein Denkmal gesetzt: Der große weiße Pottwal-Bulle Moby-Dick widersetzt sich seinen Jägern und versenkt stattdessen Captain Ahab mitsamt Schiff „Pequod“ und Mannschaft, nur ein Mann überlebt. Der großartige Roman beruht auf einer wahren Begebenheit: 1821 hatte der weiße Pottwal Mocha Dick tatsächlich mit Rammstößen des Kopfes den hölzernen Walfänger „Essex“ versenkt.
Die Pottwal-Forscher Hal Whitehead, Luke Rendell und Tim D. Smith haben die Logbücher der Walfänger analysiert und sind zu dem Ergebnis gekommen: Offenbar haben Pottwale innerhalb sehr kurzer Zeit gelernt, den Walfängern aus dem Weg zu gehen. Anders wäre es nicht zu erklären, dass die Pottwal Fänge innerhalb weniger Jahre um 58% zurückgegangen sind.
Logbücher dokumentieren Wal-Massaker
Die Logbücher der Walfänger verzeichnen, welches Schiff wo und wann wie viele Wale erbeutet hat und wie viele Fässer Öl daraus gekocht wurden. Sie sind heute wertvolle Datenquellen, auch um historische Bestände zu rekonstruieren. Das kostbare Kopföl der Pottwale (Spermaceti) war für die Walfänger aus Nantucket, New Bedford und den anderen Walfänger-Gemeinden der US-amerikanischen Ostküste im 19. Jahrhundert der Grund, sich auf die gefahrvolle und mehrjährige Reise zu den Walgründen im Pazifik zu begeben (die Walbestände des Nordatlantiks waren längst dem jahrhundertelangen Abschlachten zum Opfer gefallen und darum nicht mehr lohnenswert). Diese Communities – oft von Quäkern bewohnt – waren Teil einer strukturierten Waltötungs und -verwertungs Maschinerie und grausam effektiv.
Allerdings gingen nach den ersten Jahren die Fänge der Amerikaner im Pazifik um 58% zurück. Dieser Rückgang kann nicht dadurch erklärt werden, daß die Walfänger weniger Jahre weniger kompetent beim Aufspüren und Harpunieren der Wale waren, außerhalb des Pazifiks blieb ihr Erfolgt nämlich gleich groß. Auch wenn sie zunächst sehr viele Wale gefangen hatten, könnten diese Tötungen nicht zu einem so schnellen starken Rückgang des Pottwalbestandes dort geführt haben. Es muss also andere Gründe dafür geben.
Die Lern-Kultur der Pottwale
Hal Whitehead ist einer der wichtigsten Pottwal-Forscher weltweit, er hat ihre Kommunikation entdeckt und ihnen aufgrund ihrer komplexen sozialen Kommunikation mit Ausbildung von Dialekten und Lernstrukturen eine Kultur zugestanden. Anders als andere Zahnwale nutzt nur Physeter schnelle Klick-Serien, so genannte „Codas“, zur sozialen Kommunikation – die Klicks waren bis dahin nur als Echoortungs-Klicks bekannt.
Seit mehreren Jahrzehnten untersucht der Forscher der Dalhousie-Universität die soziale Kommunikation von Pottwalen, an den Gruppen der Weibchen und Jungtiere vor den Galapagos-Inseln hatte er erstmals beschrieben, wie die Tiere voneinander lernen. Kleine Familiengruppen aus Weibchen und ihrem Nachwuchs sind Social Units (Sozialverband), viele Social Units gehören zu einem Clan. Innerhalb des Clans klicken die Pottwale ähnliche akustische Muster, die Clans unterscheiden sich dann akustisch voneinander. Die Gruppen eines Clans interagieren miteinander, ähnlich wie man es von Orcas kennt.
Whitehead und sein Team sind zu dem Ergebnis gekommen, dass innerhalb des Social Units die einzelnen Wale ihr Klick-Muster erlernen, nicht nur von Mutter zu Nachwuchs, sondern auch horizontal von Nicht-Verwandten. Damit erfüllen die Meeressäuger die Anforderungen an ein soziales Lernen und eine kulturelle Leistung (Quellen s. u.).
Whitehead, Rendell et al sind der Meinung, dass der schnelle Rückgang des Walfang-Erfolgs durch ein Lernen in den Sozialverbänden der Pottwal-Gruppen zu erklären wäre: Die grauen Riesen der Meere haben die Gefahr erkannt und sind daraufhin aktiv den Walfängern ausgewichen.
Digitalisierte Logbücher und drei Forschungshypothesen
Dass in einem neu entdeckten Walfang-Grund, also neuen, ausbeutungswürdigen Gewässern, die ersten Walfänger extrem große Erfolge haben, die dann allerdings schnell abnehmen, ist nicht neu. Für den abnehmenden Jagderfolg gibt es eine Reihe von möglichen Erklärungen.
Das Neue an Whiteheads et al Forschung ist, dass sie die Daten und Hypothesen mit einem Computer-Modell durchgespielt haben – genau damit hatte Whitehead ja auch die Pottwal-Kommunikation und das soziale Lernen statistisch klar nachgewiesen.
So haben sie auch hier die drei Hypothesen im Computer-Modell simuliert:
- Hypothese 1: Die Kompetenz der Walfänger hat abgenommen.
Da die Walfänger außerhalb des pazifischen Pottwalfangs weiterhin sehr erfolgreich waren, ist das auszuschließen. - Hypothese 2: Im Walfang werden immer die anfälligsten Wale zuerst erlegt.
Zu diesen Anfälligsten (vulnerable individuals) gehören die Alten, Kranken, Tollkühnen, Kriegerischen, Mütter mit Nachwuchs, …)
Die Forscher haben mehrere Modellrechnungen dazu aufgestellt, aber die Daten passen nicht zueinander. - Hypothese 3: Die Wale haben mit Hilfe ihrer sozialen Lernfähigkeit extrem schnell und flächendeckend Walfang-Vermeidungs-Strategien erlernt und kommuniziert.
In Modellrechnungen zum sozialen Lernen passten die Daten mit Abstand am besten. Für eine genetische Vererbung dieses Wissens ist die Zeitspanne viel zu kurz.
Damit ist das soziale Lernen die beste Erklärung, warum der Erfolg der Walfänger innerhalb so kurzer Zeit so stark zurückging.
(Wer sich für mehr Details zur Methode interessiert: Die Publikation ist mit allen Daten und Abbildungen open source).
Da Pottwale aufgrund ihrer Größe und Stärke sowie ihrer Wehrhaftigkeit keine natürlichen Feinde außer Orcas (Orcinus orca) haben, waren sie bei den ersten Konfrontationen mit ihren menschlichen Schlächtern nicht geflüchtet, allerdings lernten sie das schnell – vor allem flohen sie gegen den Wind, so dass ihnen die Segelschiffe nicht folgen konnten. Andere griffen ihre Peiniger an. Die Walfänger beobachteten, dass diese Verhaltensweisen sich schnell durchsetzten und vermuteten, dass die Meeressäuger offenbar intensiv kommunizierten und lernten.
Diese Vermutung haben die Biologen jetzt wissenschaftlich belegt.
Der Datensatz aus digitalisierten Logbüchern umfasste 77 749 Tage mit Pottwalsichtungen an 2405 Tagen. Nach dem ersten Erfolg ging innerhalb von nur 2,4 Jahren der Walfang-Ertrag um 58% zurück.
Diese schnelle, großskalige Übernahme neuer Verhaltensweisen würde das Konzept der räumlich-zeitlichen Dynamik des Lernens in nicht menschlicher Kultur erweitern, so Whitehead et al.
Nicht-menschliche Kulturen
“Pottwale sind ozeanische Nomaden in einer instabilen Umwelt. Ihr stabiler Familienverband mit den langjährigen, engen Beziehungen ist die wichtigste Konstante in ihrem Leben. Ich sehe sie als sehr soziale Wesen.“ beschrieb mir Hal Whitehead im Interview 2016 seine Sicht auf die großen Meeressäuger mit den kantigen Köpfen. In dem unbeständigen Lebensraum sei das enge Beziehungsgeflecht, in dessen Zentrum die Kälber stehen, ihre einzige Konstante. Und dieses Geflecht wird offenbar durch einen gemeinsamen Dialekt und durch eine gemeinsame Kultur gestärkt (2016 hatte ich ihn für den umfangreichen Artikel „Moby Klick“ zu diesem Thema für Bild der Wissenschaft interviewt).
Mittlerweile sind von Whitehead und anderen Pottwal-Experten eine ganze Reihe unterschiedlicher Pottwal-Kulturen mit unterschiedlicher Kommunikation beschrieben worden, das Konzept einer Kultur auch außerhalb der Primaten-Evolution wird für immer mehr Tiergruppen beschrieben, für andere Walarten wie Orcas und andere Delphinartige und zuletzt für Nacktmulle.
Quellen
- Hal Whitehead, Tim D. Smith, Luke Rendell: „Adaptation of sperm whales to open-boat whalers: rapid social learning on a large scale?“
Published:17 March 2021https://doi.org/10.1098/rsbl.2021.0030 - Hal Whitehead: “Sperm Whales: Social Evolution in the Ocean” (2003; ISBN-13 978-0226895185)
- Bettin Wurche: Meertext: Melville, Moby Dick, die Essex-Story und der ganze Walkampf.
- Bettina Wurche: „Moby Klick: Pottwale kommunizieren in Dialekten – und grenzen sich so von fremden Gruppen ab“. (Bild der Wissenschaft, April, 2016)
Zum Weiterlesen
Pottwale sind auf Meertext häufige Besucher, schließlich bin ich diesen größten aller Zahnwalen schon sehr nahegekommen. Zwei ganze arktische Sommer habe ich mit ihnen verbracht, sie in den letzten Jahren immer mal wieder besucht und einen gestrandeten Wal mit zerlegt. Ich hatte bisher übrigens ausschließlich mit Bullen zu tun.
Darum sind auf Meertext unter dem Schlagwort „Pottwal“ noch viele weitere Beiträge über die Leviathane und ihre Erforschung zu finden
Hier steht mehr darüber
- wie ein Pottwal aussieht und sich verhält,
- wo ich dem Leviathan begegnet bin,
- wie er jagt, was es mit seiner Nase und dem Spermaceti-Öl auf sich hat
- was Ambra ist,
- warum manche Fischer keine Pottwale mögen
- und warum die Leviathane manchmal stranden.
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