NOAA (US-Wetter- und Ozeanografie-Behörde) und ihre Partner haben ein im Golf von Mexiko gesunkenes Walfangschiff identifiziert: Es ist die vor 207 Jahren gesunkene  “Industry”, eine 19,51 Meter lange zweimastige Brigg. Das Wrack war schon 2011 auf dem sandig-schlammigen Meeresboden 70 Meilen vor Pascagoula (Mississippi) entdeckt worden, im Februar 2022 wurde es mit Hilfe von Tauchrobotern in 2000 Metern Tiefe näher untersucht. Vom Holz des Schiffes war kaum etwas übriggeblieben, aber seine Umrisse zeichneten sich noch im Schlamm klar ab, dazwischen lagen noch metallene Ausrüstungsgegenstände wie Anker und Trankessel.

This image of an anchor was taken from the 1836 shipwreck site of brig Industry in the Gulf of Mexico by the NOAA ROV deployed from NOAA Ship Okeanos Explorer on February 25, 2022. (NOAA Ocean Exploration)

Die “Industry” war 1836 in einem schweren Sturm gesunken, die 15 Mann Besatzung waren von einem anderen Walfänger gerettet worden. Die “Industry” jagte Pottwale im Golf von Mexiko und sank 15 Jahre, bevor Herman Melville sein Pottwal- und Walfang-Epos “Moby Dick” veröffentlichte. Pottwale hielten zu dieser Zeit die beginnende Industrie am Laufen, ihr besonders wertvolles Kopföl – Walrat – schmierte und beleuchtete den US-amerikanischen Alltag. Der Pottwal-Fang mit seinen hohen Gewinnen und der komplexen Logistik ist eine der ältesten Industrien der USA und gilt als die Keimzelle des Kapitalismus.

Aber die 1815 gebaute “Industry” erzählt nicht nur von dem Gemetzel der Menschen an den großen Meeressäugern, sondern auch von der Sklaverei. Nachkommen von afrikanischen Sklaven und amerikanischen Ureinwohnern machten einen erheblichen Teil der Besatzungen von Walfangschiffen aus. Ihren großen Anteil am industriellen Wirtschaftswunder des 19. Jahrhunderts würdigte der stellvertretende US-Handelsminister Don Graves: „Die Geschichte der Schwarzen und der amerikanischen Ureinwohner ist die amerikanische Geschichte, und diese kritische Entdeckung dient als wichtige Erinnerung an die enormen Beiträge, die die Schwarzen und die amerikanischen Ureinwohner für unser Land geleistet haben“. Gerade die schmutzige und gefährliche Walfang-Meeresökonomie war eines der Arbeitsfelder, in denen die Herkunft weniger wichtig war, als die Arbeitsleistung, darum waren in den Besatzungen (wie überhaupt in Schiffsbesatzungen) auch viele Afroamerikaner und Ureinwohner.

Im Februar dieses Jahres hatte ein Team von NOAA und Partnern das Schiffswrack mit ferngesteuerten Tauchrobotern (ROVs) vom NOAA-Schiff “Okeanos Explorer” aus untersucht (hier ist das Video der Untersuchung) . Die

“Okeanos Explorer” war ohnehin gerade in der Region unterwegs und testete neue Ausrüstung, so war die Untersuchung des Wracks eine kostengünstige Übung. Da die “Industry” das einzige Walfangschiff ist, von dem bekannt ist, dass es im Golf von Mexiko zwischen den 1780er und 1870er Jahren sank, ist die Identifikation recht sicher. Die Schiffsreisen und ihre Walfang-Aktivitäten wurden minutiös dokumentiert, schließlich hing daran ein hoher Profit. Oft wurden sie von Konsortien betrieben, die sogar eine Hinterbliebenenrente für die Kinder und Witwen verstorbener Seeleute auszahlten. Zusätzlich berichteten auch Zeitungen darüber.


NOAA Ocean Exploration documented the brig Industry shipwreck in the Gulf of Mexico at a depth of 6,000 feet below the Gulf surface. The brig sank in the summer of 1836 after a storm snapped its masts and opened the hull to the sea.
NOAA Ocean Exploration documented the brig Industry shipwreck in the Gulf of Mexico at a depth of 6,000 feet below the Gulf surface. The brig sank in the summer of 1836 after a storm snapped its masts and opened the hull to the sea. (NOAA Ocean Exploration)

Die multikulturellen Walfang-Crews

Robin Winters, ein Bibliothekar der Westport Free Public Library, hat das Schicksal der  Besatzung klären können. Er hat einen Zeitungsartikel des Nantucket Inquirer and Mirror vom 17. Juni 1836 im Nantucket Inquirer and Mirror recherchiert, der berichtet, dass die Besatzung der “Industry” von einem anderen Westport-Walfangschiff, der “Elizabeth”, von ihrer havarierten Brigg rettete und sicher nach Westport, Massachusetts, zurückbrachte. Das war ein wichtiger Aspekt: Wären die Männer in Mississippi gelandet, wären die afroamerikanschen Besatzungsmitglieder “nach den örtlichen Gesetzen inhaftiert worden. Und wenn sie ihren Unterhalt im Gefängnis nicht bezahlen konnten, wären sie in die Sklaverei verkauft worden.“ erklärt der NOAA-Wissenschaftler James Delgado. Die 230 Fässer Walöl wurden von einem anderen Walfangschiff geborgen.

Eine Liste der “Industry”-Crew existiert heute nicht mehr, sie ist mit dem Schiff gesunken. Die Mannschaftslisten früherer Reisen sind allerdings erhalten und zeigen eine diverse, multikulturelle Crew: Besatzungsmitglieder und Offiziere waren “Schwarze, amerikanische Ureinwohner, Weiße und gemischtrassige Menschen.” Außerdem sei die Brigg ist mit dem Leben von Paul Cuffe verbunden: “einem Seemann und Unternehmer, dessen Vater ein befreiter Sklave und seine Mutter eine Wampanoag-Indianerin war. Cuffe begann als Teenager mit dem Walfang und stieg zu einem erfolgreichen Schiffsbauer, Kaufmann, Abolitionisten, Philanthropen, Gründer einer integrierten öffentlichen Schule und zu einem der Leiter eines Projekts zur Ansiedlung befreiter Schwarzer in einer neuen Kolonie in Afrika auf. Sein Sohn William war Navigator bei Industry und sein Schwiegersohn, Pardon Cook, war Offizier auf der Brigg und soll die meisten Walfangreisen aller Schwarzen in der amerikanischen Geschichte unternommen haben.”

Quellen und zum Weiterlesen:

https://www.noaa.gov/news-release/noaa-partners-discover-wreck-of-207-year-old-whaling-ship

Meertext: Melville, Moby Dick, die Essex-Story und der ganze Walkampf

 

Kommentare (15)

  1. #1 Dampier
    25. März 2022

    Spannende Geschichte. Die gemischtrassige (sagt man heute noch so?) Zusammensetzung der damaligen Schiffsbesatzungen ist ein interessantes Thema, ich frage mich immer, wie die wohl untereinander auskamen, es kommt da leicht die etwas romantische Vorstellung auf, dass alle aufeinander angewiesen waren, dass jede Hand gebraucht wurde, und Hautfarbe und Herkunft deshalb möglicherweise an Bord eher irrelevant waren. Ähnliche Fragen kommen ja schon bei den Freibeutern des 17. Jahrhunderts auf, die wohl auch schon ziemlich divers waren – und ebenfalls Gegenstand romantischer Verklärung, dass Piraten quasi Vorreiter von Toleranz und Diversität gewesen seien, siehe z.B. Gabriel Kuhn: Unter dem Jolly Roger. Ein aufschlussreiches Buch zu dem Thema.

    Vor allem Paul Cuffe hat mein Interesse geweckt, über den werde ich mir mal etwas anlesen, danke für den Hinweis.

    Etwas schmunzeln musste ich bei dem schönen Namen “Pardon Cook Offsite Link”. Nachdem ich erst versuchte, die Bedeutung eines so ungewöhnlichen Namens für mich herzuleiten, hab ich dann doch mal im Originaltext geschaut. “Offsite Link” war da natürlich per Copy-Paste versehentlich mit in deinen Text geraten 🙂

  2. #2 RPGNo1
    25. März 2022

    Die Geschichte der multikulturellen Mannschaft der “Industry” hat mir den Roman Moby Dick und ihre Harpuniere wieder ins Gedächtnis gerufen. Ich wusste noch, dass es ein Polynesier, ein Indianer und ein Afrikaner waren, und Wiki sagt mir, dass auch ein Parse ein Bord war. Zudem wird auch davon gesprochen, dass die Mannschaft “sich aus Vertretern vieler verschiedener Nationen zusammensetzt.”

    Herman Melville hat ein sehr gutes Abbild eines zeitgenössischen Walfängers skizziert.

  3. #3 Bettina Wurche
    25. März 2022

    @RPGNo1: Ja, genau! Und gerade die Harpuniere standen als Experten, von denen das Gelingen der Fahrt abhing, in der Hierarchie weit oben. In Moby Dick gibt es dann ja noch dieses geheimnisvolle Extra-Fangboot für den Kapitän mit der chinesischen Mannschaft. Melvilles Schilderung war exzellent!
    Es gibt eine Doku, die das detalliert untersucht und den Pottwalfang der Quäker als Keimzelle des amerikansichen Kapitalismus analysiert.
    Dieser Roman enthält unglaublich viel!

  4. #4 Bettina Wurche
    25. März 2022

    @Dampier: Ups – danke für die Korrektur (ich habe das eben extrem schnell zusammmegeschrieben – sorry).
    Ich denke, dass die Seefahrt, ob Walfang, Handelsschifffahrt, Marine oder Freibeuterei, insgesamt ein Multi-Kulti-Schmelztiegel war und ist. So eine Hierarchie an Bord gehorcht anderen Gesetzen, Herkunft und Familie eines Menschen sind da mehr das allein wichtige Merkmal. Es kommt darauf an, wie zuverlässig und gut diese Person an Bord arbeitet, oft sind auch Soft Skills noch ein Aspekt.
    Auch ohne romantische Verklärung sind Schiffe ein eigener Mikrokosmos mit diverser Kultur. Jack London beschreibt das ja auch, etwa im Seewolf.

    Mit Rassen-Begriffe kenne ich mich nicht gut aus und bin da sehr vorsichtig.

    A propos Seefahrt: Kennst Du die Seefahrtsromane von James Fennimore Cooper? Die sollen mit die ersten solcher Geschichten gewesen sein und ausgesprochen gut recherchiert. Ich bin im Zusammenhang mit einer Jules Verne-Recherche darauf gestoßen, habe die Bücher aber noch nie in der Hand gehabt.

  5. #5 Omnivor
    Am 'Nordpol' von NRW
    25. März 2022

    Ich kannte bisher nur Lederstrumpf, aber im Project Gutenberg gibt es von James Fenimore Cooper:
    The Spy
    The Pilot: A Tale of the Sea,
    The Water-Witch; Or, the Skimmer of the Seas
    Homeward Bound; Or, the Chase: A Tale of the Sea
    Home as Found, Sequel to “Homeward Bound”
    The Sea Lions; Or, The Lost Sealers
    Afloat and Ashore: A Sea Tale
    The Wing-and-Wing; Or, Le Feu-Follet
    The Crater; Or, Vulcan’s Peak: A Tale of the Pacific
    Ned Myers, or, a Life Before the Mast
    The Red Rover: A Tale

    Da er selber zur See gefahren ist, in der Hinsicht sicherlich realistisch.

  6. #6 Dampier
    25. März 2022

    @Bettina, die Romane von Cooper kenne ich nicht, das werde ich mal im Hinterkopf behalten. Danke auch @Omnivor für die Auflistung!

  7. #7 rolak
    26. März 2022

    Ebenfalls schönen Dank an Omnivor für die vortreffliche Vorarbeit. Ein kurzer Blick in die D-Liste erinnerte zudem an die seit langem auf mindestens einer Suchliste stehenden Übersetzungen ‘Bilder aus der amerikanischen Vergangenheit’ von Arno Schmidt. ^^es nimmt einfach kein Ende 😉 *aus dem Antiquariat bestellt*

    eine kostengünstige Übung

    ..während der erste hier generierte Gedanke zur Überschrift ein scheinstabiles ‘sicher irgendein Schatzsucher’ war, wahrscheinlich Verne/Nautilus-befeuert.

    Eine kostengünstige Freizeitgestaltung ist heute in K im Angebot – kommt mir sehr entgegen, hätte ich allerdings rein garnix von erfahren, wenn ich nicht gestern quasizufällig bei der KVB ne Verbindung gesucht hätte…

  8. #8 Joachim
    27. März 2022

    Okay, Abenteuer, Geschichte, ein wenig Biologie und Wissenschaften, Literatur, Gesellschaftskritik – ich betrachte das auch aus Statement gegen Rassismus – und dann noch wie immer gut geschrieben, alles in einem Artikel. Und dann noch eines meiner Lieblingsbücher zu erwähnen…

    Einzig die Vorstellung, wie es wirklich war, da möchte ich relativieren. Es war Schinderei, Ausbeutung, Menschen sind gestorben, ganz zu Schweigen von den Walen.

    Trotzdem, Artikel in dieser Qualität werden anderswo immer seltener…

  9. #9 Bettina Wurche
    27. März 2022

    @Joachim:Danke. Ich bin davon ausgegangen, dass ich das nicht extra erwähnen muss. Dass ich Walfang aus wissenschaftlichen und persönlichen Gründen ablehne, habe ich schon in so vielen anderen Artikeln geschrieben und darum hier nicht erwähnt. Dass die historische Seefahrt für die meisten Menschen eine entsetzliche Schinderei war und es sogar bis heute in vielen Fällen noch ist, habe ich tatsächlich nicht erwähnt.
    Tatsächlich könnte sich fast niemand von uns heute vorstellen, unter welchen Umständen die Männer auf hölzernen Segelschiffen gehaust und gelitten haben. Jedem sei ein Besuch auf einem historischen Segler empfohlen, dann wird die qualvolle Enge, die entsetzlichen hygienischen Verhältnisse und die ständige Bedrohung der hölzerne Nussschale durch das Meer sehr bewusst. Fauliges Wasser und verfaulter Proviant ist für uns heute unvorstellbar. Mich wundert immer nur, dass trotz dieser Umstände so viele Seeleute längere Zeit überlebt haben.

  10. #10 Joachim
    27. März 2022

    Nun, ich denke, für mich musstest du das (#9) nicht extra erwähnen. Mir ist klar, dass dir das (und viel mehr) bekannt ist. Nicht du, wohl aber ich muss mich bedanken, nicht zuletzt auch für deine Geduld.

    Melville, wie auch Jack London beschreiben durchaus auch die Konflikte und Probleme des “wässrigen Teils der Welt”. Gerade Melville kannte die Situation genau, hat sie erlebt, erlitten und beschrieben. Er kannte wohl auch Leute der vorher untergegangenen, von einem Pottwal gerammten Essex – eine offenbar sehr gruslige Geschichte sogar mit Kanibalismus.

    Na ja, wahnsinnige Ahabs gibt es bis heute viel zu viele. Nur dass deren Fetisch nicht immer Rache ist, sondern heute Geld, Macht und oftmals eine Portion Wahnsinn.

    Aber auf dem “Okeanos Explorer” wäre ich gerne dabei gewesen.

    Vielleicht lese ich ja hier so gerne, weil hier ein anderes, aus meiner Sicht logisches und besseres Selbst- und Weltenverständnis herrscht und dabei neben Wissenschaft auch Begeisterung für etwas offenbart (…)

  11. #11 rolak
    27. März 2022

    bis heute viel zu viele

    Unter dem Aspekt ‘Gefährdung der Fauna’ als passend zu jenem Meertext-Text empfunden und notiert, jetzt allerdings auch zu diesem Subthema des Wrackfundes gehörig: neulich wiederholte DW die 2018er ZDF-Synch der Doku Mafia auf dem Meer. Die Schlächtereien unterscheiden sich zwar in der Formalie, daß die der Industry komplett legitim war, die der Doku dagegen Vergehen gegen diverse Gesetze darstellen, doch letztlich sinds halt sämtlich Schlächtereien.

  12. #12 Bettina Wurche
    27. März 2022

    @Joachim: Melville hat sogar selbst auf einem Walfänger angeheuert und ist dann aber schnell desertiert.
    Ich muss an dieser Stelle auch zugeben, dass ich die historischen Seefahrt Romane von Jack O’Brien und Forrester sehr schätze. Die liebt surprise aus dem Film hatten wir in San Diego im Schiffahrtsmuseum gesehen, leider nur von außen. Und bei zwei Besuchen in Portsmouth sind wir eigentlich aus dem historischen teil und dem historischen Marinemuseum kaum rausgekommen. Im unteren Batteriedeckt der Victory zu stehen war schon wirklich beeindruckend.
    Jetzt gerade lese ich sehr viel zu Georg Wilhelm Steller, der 1741 auf der beringinsel die stellersche Seekuh beschrieb und dort eine Weile strandete. Gegen die englische Marine in den oben genannten Büchern war das Leben auf der Expedition mit Kapitän Bering noch weitaus schlimmer. Das Schiff vergammelte ihnen unter den Füßen, die Kleidung fiel vermodernd von den Skorbut geplagten Körpern und sie waren eigentlich ziemlich orientierungslos in einem Unbekannten Meer unterwegs. Nicht nur die Navigation und Versorgung sondern auch die Disziplin waren wohl katastrophal, Steller beklagte sich in seinen Aufsätzen darüber, die wohnt für die Nachwelt zensiert. Dagegen war die englische Marine um 1780 oder später wohl ein deutlich kleineres Übel. Wie es der Mannschaft auf einem Walfänger um 1800 ergangen sein mag, dazu habe ich nur wenig gelesen. Über den rohen Umgang miteinander auf einem Robbenfänger finde ich ja Jack Londons wesentlich später spielenden Roman Der Seewolf ganz ausgezeichnet. London hat ja selber zumindest auch in der Fischerei und als Austernpirat gearbeitet, ob er mal auf einem Robbenschläger oder Walfänger war weiß ich nicht.
    Cooper steht auf jeden Fall auf meiner Leseliste!

  13. #13 Bettina Wurche
    27. März 2022

    @rolak: Danke für die Empfehlungen – Mafia auf dem Meer kenne ich noch nicht

  14. #14 Dampier
    27. März 2022

    Arthur Conan Doyle ist ja auch auf Walfang gewesen als junger Mann. Sein Bordtagebuch ist auch auf deutsch erschienen. Empfehlenswert!

  15. #15 Bettina Wurche
    27. März 2022

    @Dampier: Danke! Ja, der hat auch eine starke Affinität zum Meer