Die WildwieseWildwiesen sind unterschätzte und extrem spannende Lebensräume. Sie sind kleine wilde Flecken in der Kulturlandschaft und wichtige Rückzugsräume für die Biodiversität, der Vielfalt von Arten, Lebensräumen und Genomen. Abgesehen von ihrer großen ökologischen Bedeutung haben sie auch psychologische Relevanz: Das Meer aus Gräsern und bunten Wildblumen mit ihren umherflatternden und brummenden Insekten und anderen kleinen Bewohnern bis zu größeren Tieren wie Hasen und Vögeln macht gute Laune und wirkt auch in Streßsituationen ausgleichend. Auch Wiesen haben einen komplexen Stockwerksaufbau wie Wälder, nur kleiner. Sie stehen in engem Austausch mit anderen Ökosystemen, haben tagsüber ein anderes Leben als nachts und sind immer wieder für erstaunliche Begegungen gut.

Das großformatige Buch “Die Wildwiese” mit Texten von Angelika Huber-Janisch und Illustrationen von Annette Zacharias ist die Einladung zu einer Expedition in diesen grünbunten Mikroskosmos, der vor vielbeinigen Bewohnern strotzt und wimmelt.
Gut und übersichtlich gegliedert stellt Angelika Huber-Janisch auf jeweils einer Doppelseite verschiedene Wiesentypen, Tier- und Pflanzenarten sowie Fähigkeiten vor. Ihrwn Text umrahmen Annette Zacharias passende Illustrationen, die selbst noch weitere Geschichten hinter den Geschichten erzählen. So eignet sich jede Doppelseite zum gemeinsam Schmökern und Entdecken. Angelika Huber-Janisch schreibt mit großer Sachkunde, auch für mich als eifrige Streuobstwiesengängerin und begeisterte Wiesenentdeckerin waren noch einige neue Details dabei.
Gerade ihre Beschreibung der Insekten und ihrer besonderen Fähigkeiten finde ich wichtig: Krabbeltiere sind immer noch zu ielen Menschen suspekt, wenn es nicht gerade samtige Bienen oder farbenprächtige Schmetterlinge sind. Allein die Vorstellung der Sehkraft und Sichtweise einer Fliege wird hoffentlich viele Menschen dazu bringen, in den geflügelten Kerbtieren künftig mehr als Nervensägen mit Schmuddelimage zu sehen. Neben Tieren und Pflanzen stellt sie auch Pilze als eigenes Reich der Lebewesen vor, die werden nach meinem Geschmack sonst oft vergessen. Eine Doppelseite über die vernachlässigten Moose in Wiesen und Rasen oder giftige Pflanzen mit vielen spannenden Details finde ich richtig gut. Dass Glühwürmchen Schnecken jagen und sie mit einem Giftbiß töten, wusste ich auch noch nicht.

An den Illustrationen gefällt mir besonders gut, dass sie naturgetreu sind, statt geschönt-lieblich. In bester Tradition wissenschaftlicher Abbildungen arbeitet Annette Zacharias die Erkennungsmerkmale und Eigenheiten der vorgestellten Arten heraus. Neben einem Überblick über das gesamte Ökosystem laden eine Fülle von Details zum Immer-Wieder-Anschauen ein.

Der einladende Charakter der Kapitel und dann auch noch eine Anleitung zum Anlegen eines eigenen Herbariusm sind gute Anreize, selbst aktiv zu werden und eine Wiese genauer unter die Lupe zu nehmen. Damit entsteht der Bogen vom Theoretischen zum Praktischen.
Das Thema Biodiversität der Wildwiesen mit ihren Pflanzen, Tieren, Pilzen und mehr ist aktuell noch wichtiger als je zuvor. Es ist von großer Bedeutung, diese Schlagworte für alle Altersgruppen anschaulich und einfach zugänglich zu vermitteln. Vielleicht wären die Ergänzung von so wichtigen Begriffen wie “Biodiversität” und die Bedeutung der Wildwiesen in der Klimakrise noch gut gewesen.

Empfohlen wird das Buch ab 8 Jahren. Aufgrund der vielen Fachbegriffe denke ich, dass es besser geeignet zum gemeinsamen Lesen und Angucken ist. Ich bin nicht sicher, ob jedes Kind mit biologischen Begriffen und Arten vertraut ist. Dazu kommt, dass Artnamen oft sehr lang und komplex sind. Aus meiner Umweltpädagogik-Erfahrung heraus weiß ich, dass auch ältere Kinder oft mit dem Lesen langer zusammengesetzter Worte Probleme haben. Dazu kommt, dass viele Artnamen Begriffe enthalten, die nicht mehr zu unserem aktuellen Sprachgebrauch gehören. Manche Fachbegriffe werden im Glossar erläutert, viele andere nicht. Um Spaß am Lesen zu haben, sollte man die gemeinsam erklären oder nachschlagen. Warum Bakterien und Doldengewächse im Glossar erklärt werden, nicht aber Viren oder Schmetterlingsblütler, erschließt sich mir nicht. Vielleicht wären manche Fachbegriffe auch als Abbildung besser verständlich als durch Worte erklärbar.

Die Sprache gefällt mir nicht so gut. Ich empfinde die Sprache als inkonsistent: Fachbegriffe wechseln sich ab mit scheinbar kindgerechten Sprüchen, die anbiedernd ans junge Publikum wirken. Als Biologin ist es für mich ein No-Go, eine gut getarnte Krabbenspinne als “heimtückisch” zu bezeichnen. Die bunten Krabbenspinnen, die in bunten Blüten sitzen, sind getarnt. “Heimtückisch” ist eine menschliche Moralvorstellung, die in einem heutigen Biologie-Buch nichts zu suchen hat. Genausowenig  menschliche Wertungen wie “bequem/unbequem”, “Glück” oder die “tapfere” Brennnessel, die die frechen” Hasen und Kaninchen mit ihren Brennhaaren vom Anknabbern abhält. Auch die “kratzbürstige” Distel ist eine entbehrliche Plattitüde.
Trotz dieser kleinen Schwäche kann ich das Buch für gemeinsame theoretische und praktische Wiesen-Expeditionen für große und kleine Leute unbedingt empfehlen!
Bei nächster Gelegenheit werde ich es mit einigen Kindern ausprobieren.

Angelika Huber-Janisch, Annette Zacharias: Die Wildwiese – Die Vielfalt einer verborgenen Welt entdecken” ist im Knesebeck-Verlag erschienen und kostet 20,00 € (ISBN 978-3-95728-531-7). Ein kleiner Preis für ein so großformatiges, sachkundiges und ästhetisch ansprechendes Buch.

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