Vor einigen Tagen bin ich über diese Publikation gestolpert: „Solving the mystery of the Chukotka stinky Gray whales“ (Olga Polyakova et al, Oct. 2022,  SSRN Electronic Journal, Preprint) – „Das Rätsel um die stinkenden Grauwale in Tschukotka lösen“.
In der indigenen Tschuktschen-Community der russischen Arktis gibt es immer mal wieder Meldungen über stinkende Grauwale. Nun riechen tote Wale an sich nicht sehr gut, sondern extrem gammelig. Dieser Grauwal-Geruch jedoch wird als „medizinisch“ oder iodartig beschrieben. So schlimm sei dieser besondere Geruch bei manchen erlegten Grauwalen, so klagen die Tschuktschen, dass nicht einmal ihre Hunde das Fleisch fressen wollen. Kocht und verzehrt ein Mensch solche ein übelriechendes Walfilet, folgen Taubheitsgefühl im Mund, Hautausschläge oder Bauchschmerzen. Mittlerweile versuchen die indigenen Waljäger, zwar schon bei der Verfolgung des Wals abzuchecken, ob es sich um ein potentielles Essen oder um einen „Stinker“ handelt, das klappt allerdings nicht immer.

Grauwal

Eschrichtius robustus – Charles Melville Scammon’s 1874 illustration of a gray whale (Charles Melville Scammon Natural history of the cetaceans and other marine mammals of the western coast of North America ; Wikipedia)

Tschuktschen mögen keine stinkenden Grauwale

Indigene Völker der Arktis erhalten von der Internationalen Walfang-Kommission (IWC) eine kleine Wal-Quote als sogenannten Eingeborenen-Walfang (Subsistenz-Walfang, Aboriginal Whaling). Vier Mitglieder der IWC erlauben ihren Ureinwohner-Communities, bei denen Walprodukte eine wichtige Rolle in der traditionellen Ernährung und im kulturellen Leben sind, weiterhin die kleinskalige Jagd auf große Wale (Dänemark (Grönland), Russland (Tschukotka), St. Vincent und die Grenadinen (Bequia) und die Vereinigten Staaten (Alaska)). Die fetten Wale wie Grauwal und Nordkaper werden von einer Dorfgemeinschaft gemeinsam erlegt und im Dorf verteilt. Gerade in der Arktis, wo keine Landwirtschaft möglich ist, sind sie ein wichtiger Wintervorrat. Der sogenannte Muktuk, die Haut mit der darunter liegenden elfenbein- bis rosafarbenen Fettschicht, hat einen extrem hohen Vitamin C-Gehalt, sogar eine höhere (L-(+)-Ascorbinsäure-Konzentration als Zitrusfrüchte! Damit war und ist sie ein besonders wichtiges Lebensmittel gegen Skorbut und andere Mangelkrankheiten. Darum ist die fette Leckerei, die in Blöcken aus den Walen geschnitten wird und nach Nüssen schmecken soll, bis heute ein wichtiges Lebensmittel etwa bei arktischen Inuit.

Für die Tschuktschen sollen die Grauwale bis zu 30% ihrer Ernährung ausmachen. Allerdings lief die Tschuktschen-Waljagd nicht immer so pseudo-idyllisch ab, wie indigener Walfang oft dargestellt wird – zu Sowjetzeiten lieferte ein Walfangschiff die geschossenen Wale komfortabel vor die „Haustür“. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990-ern fiel das Schiff “Zvezdniy” weg, nun mussten die Tschuktschen wieder allein auf Waljagd gehen. Da sie mit kleinen offenen Booten jagen, erlegen sie die Meeressäuger in küstennahen Gewässern. Damit fing das Problem der stinkenden Wale an.

Solch eine Jagd ist ein großer Aufwand und die Wal-Quote begrenzt, darum versuchen die Jäger schon auf See herauszufinden, ob der verfolgte Meeressäuger medizinisch müffelt: sie fahren dicht an den Wal heran und schnuppern am Blasloch bzw. am ausgeatmeten Blas. Meistens lässt sich so ein unverdauliches Exemplar identifizieren. Aber nicht immer. Manchmal fällt es erst beim Zerlegen oder sogar erst beim Kochen auf.
Darum diskutierten russische IWC-Vertreter mit den anderen WalexpertInnen, dass diese ungenießbaren Grauwale aus der Quote herausgerechnet werden müssen, da die drei bis 10 Exemplare im Wintervorrat der Tschuktschen-Dörfer fehlen würden. Immerhin seien davon mittlerweile etwa 10 Prozent der grauen Riesen in den Tschutkschen-See-Küstengewässern betroffen. Einige Walrosse, kleinere Robben und Seevögel hätten das gleiche Problem.
Darum müsse man dringend nach der Ursache forschen, so forderten die Russen 2016, bisher hätten die Laboruntersuchungen den oder die Übeltäter nicht identifizieren können.

Wegen der politischen Brisanz des Walfangs kursieren natürlich Verschwörungsmythen, wie, dass Anti-Walfang-Aktivisten den Walen Chemikalien verabreicht haben, um den Walfang zu torpedieren. Andere plausiblere Vermutungen befürchteten eher eine Belastung der fette Meeressäuger mit Umweltgiften, etwa aus Ölunfällen – das war auch meine erste Vermutung.

In der Grauwal-Nahrung ist der Wurm `drin

Aber warum hat das Gestanks-Problem erst mit der Waljagd von kleinen Booten aus begonnen? Könnte es mit dem Fang in flachen Küstengewässern zusammenhängen?
Die groß angelegte russische LaborstudieSolving the mystery of the Chukotka stinky Gray whales“ (Olga Polyakova et al, Oct. 2022, SSRN Electronic Journal, Preprint), bei der Massenspektrometer zum Einsatz kamen, hat jetzt mit umfassenden Analysen auch flüchtige, sonst übersehene Substanzen untersucht und Ergebnisse erbracht (Achtung, die Arbeit ist noch ein PrePrint!).

Beim Vergleich der Proben von „stinky“ und „non-stinky whales“ fand das interdisziplinäre Team Bromphenole als Hauptquelle des üblen Geruchs. Deren Geruch entspricht genau dem beschriebenen „medizinischen“, „iodartigen“ Gestank. Die Konzentrationen waren bei den „Stinkern“ auffallend erhöht: Im Lungengewebe um das bis zu 590-fache!.
Die zweite spannende Frage ist die Ursache der erhöhten Bromphenol-Werte. Untersuchungen an Fischen, die vorwiegend Meeresalgen und Würmer fraßen und auch Bromphenole enthielten, zeigten im Magen eine wesentlich höhere Konzentration als im restlichen Körpergewebe, das ist ein klarer Hinweis auf die Aufnahme mit der Nahrung. Hatten auch die Wale die Geruchsursache mit der Nahrung aufgenommen?
Grauwale sind die einzigen Bartenwale, die überwiegend am Meeresboden fressen: Jeden Sommer ziehen sie in die Tschuktschen-See und das Bering-Meer, wo sich im Laufe des arktischen Sommers besonders fette Flohkrebse in großen Konzentrationen im Meeresboden anreichern. Die Walschnauzen bohren sich dann in einer Seitenrolle ins weiche Sediment und nehmen ein Maul voll Schlick auf, der voller Flohkrebse und Würmer steckt. Mit halb geöffnetem Riesenmaul spülen sie den Schlick wieder heraus, Krebse und Würmer bleiben in den kurzen Barten des Oberkiefers wie in einem Sieb hängen. Die meisten Grauwale rollen dabei übrigens über die rechte Seite, nur wenige bevorzugen die linke – die bevorzugte Seite ist an der Barten-Abnutzung erkennbar. Dabei wühlen sie große Mulden auf, die vom Flugzeug aus sichtbar sind. Warum dort so große Mengen Amphipoden vorkommen, hatte ich für Spektrum hier aufgeschrieben, es hat mit den langen Sonnentagen der Arktis und den Eisalgen zu tun. Im Spektrum-Artikel habe ich allerdings die ebenfalls fetten und im Schlamm lebenden Borstenwürmer nicht weiter vorgestellt. Die sind aber der springende Punkt für die Bromphenol-Belastung: Bromphenole sind nämlich in manchen marinen Arten weit verbreitet, etwa bei Meeresalgen und in vielen wirbellosen Tieren, unter anderem bei Meereswürmern. Bromphenole sind Toxine mit antibakteriellen Eigenschaften. Gerade am Boden lebende, nicht sehr schnelle Tiere haben sicherlich erheblichen Bedarf an solchem Schutz vor Bakterienbefall. Flohkrebse und Borstenwürmer machen den größten Teil des Walmahls in der östlichen Tschuktschen-See aus, sie kommen in 90-100 % der Magenproben vor und sind fast 90 % des Gewichts der der Proben. Dabei sind Bromphenole bislang nur in Würmern, nicht aber in Krebsen nachgewiesen.

Da die Zusammensetzung der benthischen (im Schlamm lebenden) Artengemeinschaft lokal sehr unterschiedlich sein kann und Grauwale oft beim Sommerbuffet sehr ortstreu sind, kann es also sein, dass die „Stinker“ eine Stelle mit besonders vielen Würmern erwischt hatten. Ob sie das Bromphenol nicht wahrnehmen oder warum sie bevorzugt solche belastete Nahrung aufnehmen, ist noch nicht bekannt.

Warum sich die Tschuktschen langfristig nach anderer Nahrung umschauen sollten

Dass sich durch die Klimakrise gerade das arktische Ökosystem rasend schnell ändert und die Grauwale dort offenbar hungern, hatte ich für Spektrum recherchiert. Die Grauwale hatten diese Nahrungswanderung nach dem Ende der letzten Eiszeit entwickelt, vorher gab es die flachen Wasserbereiche nicht. In den letzten Jahren ist es dann zu Grauwal-Massensterben gekommen. Gleichzeitig haben die Walexperten beobachtet, dass immer mehr Grauwale offenbar nicht mehr bis in die Arktis ziehen, sondern statt der langen Wanderung für besonders fette Nahrung nur einen kurzen Abstecher nach Norden machen und sich dort mit weniger konzentrierter und fetter Nahrung begnügen: Mit Plankton aus der Wassersäule und kleinen Schwarmfischen. Sollten immer mehr Grauwale ihr Verhalten der Klimakrise anpassen, müssen sich vielleicht in absehbarer Zeit auch die Tschuktschen nach neuen Nahrungsquellen umsehen. Diese Transformation dürfte aber vermutlich einige Generationen dauern, bei Walen und Menschen.

Dass der Verzehr von Walen und anderen Meeressäugern wegen ihrer hohen Belastung mit Persistent Organic Pollutants (POPs) fragwürdig ist und trotz des guten Nährwerts mit Fetten und Proteinen die Gesundheit ihrer Konsumenten bedroht, sei hier nur am Rande angemerkt. Russische WissenschaftlerInnen empfehlen darum, den Walblubber und die Leber nicht zu essen, da hier die höchste Schadstoffbelastung konzentriert ist. Andere WissenschaftlerInnen raten vom Verzehr von Walfleisch darum ab.

Ich lehne Walfang insgesamt ab, sehe allerdings den sogenannten Eingeborenen-Walfang nicht als das größte Problem der langlebigen Meeressäuger. Nach den Zahlen, die ich zu den verschiedenen Arten so sehe, sterben wesentlich mehr Cetacean durch andere anthropogen verursachte Umstände wie Meeresverschmutzung, Überfischung, Lärm und Schifffahrtsrouten.

Videos mit fressenden Grauwalen

Grauwal am Strand – wegen der aus dem Wasser ragenden Rückenflosse auch “Sharking” genannt

Video von Florence Sullivan:

“Taken in Port Orford on Battle Rock Beach, this video shows a gray whale foraging in shallow water. Turned on its side, at times only parts of the pectoral fin and fluke stick above the water, resembling a shark fin. Hence, the name of the behavior. This video was taken as part of a research project by the GEMM Lab of Oregon State University.”

Tauchender Grauwal beim Fressen

Video von Ulsan : 울산을 보여줌

Kommentare (4)

  1. #1 Sascha
    19. Oktober 2022

    Gewagte Hypothese: Die Wale fressen entsprechend belastetes Futter, damit/weil sie weniger oft erlegt werden.

  2. #2 Bettina Wurche
    19. Oktober 2022

    @Sascha: Ausgesprochen gewagte Hypothese. Grauwale leben einzeln, gemeinsame Aktionen schaffen sie z. B. nicht mal gegen Orca-Angriffe. Anders als Buckelwale, die Orcas mobben:https://scienceblogs.de/meertext/2017/02/03/mobben-buckelwale-orcas/
    Von Pottwalen ist bekannt, dass sie Walfängern im 18. Jahrhundert vermutlich ausgewichen sind
    https://scienceblogs.de/meertext/2021/03/21/haben-pottwale-gelernt-walfaengern-auszuweichen/
    Orcas versenken kleine Boote, weil sie verstanden haben, dass von denen Schaden (Verletzung, Tod) ausgehen kann:
    https://www.spektrum.de/news/orca-angriffe-wale-die-yachten-rammen/2029864
    Solche Vermeidungen bzw. Angriffe als Reaktion auf einen einfachen kausalen Zusammenhang wären auch bei anderen Arten vorstellbar.

    Aber Deine Hypothese würde bedeuten, dass Grauwale
    1. verstehen, dass stinkende Wale seltener harpuniert werden
    2. die Wale den Gestank durch die Würmer aufnehmen
    3. aktiv wurmfreie Nahrung suchen.
    Das sind schon ziemlich viele kognitiv anspruchsvolle Leistungen, die als kausale Kette verknüpft werden müssen.
    Solche komplexen Zusammenhänge und eine daraus resultierende Reaktion würden wahrscheinlich die meisten Menschen überfordern : )
    Das würde ich nicht mal Orcas zutrauen udn schon gar nicht Grauwalen

  3. #3 Sascha
    20. Oktober 2022

    Das war auch nicht ernsthaft als kognitive Leistung gemeint.
    Es könnte aber eine evolutionäre Folge werden, wenn diese Wale weniger oft erlegt werden. Kommt halt drauf an, wie groß der Selektionsdruck durch die Bejagung ist.

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