Erster Merseburger Zauberspruch: Entfesselungszauber
„In normalisierter Orthographie mit Übersetzung:
Eiris sâzun idisi,sâzun hêra duoder. (A1; C2)
suma haft heftidun, suma heri lêzidun, (C1; C2)
suma clûbodun umbi cuniowidi: (C1; B1, o. C3)
insprinc haftbandun, nfar wîgandun. (aD1; aD1)
Einstmals setzten sich Frauen, setzten sich hierhin und dorthin.
Einige heftetenAnm. 1 Hafte, andere hemmten das Heer,
andere nestelnAnm. 2 an festen Fesseln:
Entspring den Banden, entweich den Feinden.Anm. 3
Anm. 1 heften = nähen.
Anm. 2 Vgl. Nestelband.
Anm. 3 Siehe Glosíková, Jičínská[19]“
Die Identität der Frauen ist nicht abschließend geklärt, für die weitere Interpretation s. Wikipedia: Merseburger Zaubersprüche.
Zweiter Merseburger Zauberspruch: Heilzauber
In normalisierter Orthographie mit Übersetzung:
Phôl ende Wuodan fuorun zi holza. (A1; A1)
dû wart demo balderes folon sîn fuoz birenkit. (B2, o. B3; C2)
thû biguol en Sinthgunt, Sunna era swister; (A3; A1)
thû biguol en Frîja, Folla era swister; (A3; A1)
thû biguol en Wuodan, sô hê wola conda: (A3; C2)
sôse bênrenki, sôse bluotrenki, (C1; C1)
sôse lidirenki: (C2)
bên zi bêna, bluot zi bluoda, (A1; A1)
lid zi geliden, sôse gelîmida sîn. (A1k; B2)
Phol und Wotan ritten in das Gehölz.
Da wurde dem Balders-Fohlen sein Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Sinthgunt und Sunna, ihre Schwester,
da besprach ihn Frija und Volla, ihre Schwester,
da besprach ihn Wotan, der es wohl verstand:
Wie Beinverrenkung, so Blutverrenkung,
so Gliederverrenkung:
Bein zu Bein, Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern, wie geleimt sollen sie sein!Anm. 4
Anm. 4 Glosíková, Jičínská.[26]
(Weitere Interpretation s. Wikipedia: Merseburger Zaubersprüche)
Hier werden die eigentlich aus der nordischen Mythologie bekannten Gottheiten Wotan (Odin), seine Frau Frija sowie Balder genannt. Balder, der nordische Gott des Lichts, war bis dahin nur aus nordischen Quellen bekannt. Die Identität von Phol, den Schwestern Sinthgunt und Sunna sowie Frijas Schwester Volla ist ungeklärt, die Namen sind bis dahin in keinen Quellen dieser Zeit aufgetaucht (Quelle: Wikipedia: Merseburger Zaubersprüche).
Beide Zaubersprüche haben mich angerührt, weil sie Einblick in eine ganz andere Lebewelt der fernen Vergangenheit geben, voller Göttinnen und Götter, die man bei Problemen des Alltags um Hilfe bittet. In den Zaubersprüchen wird lebendig, wie diese Geisterwesen missgünstig oder hilfsbereit in den Alltag eingriffen und wie gegenwärtig sie den Menschen waren.
Die Bedeutung der Zaubersprüche ist so groß, dass zurzeit ein Antrag läuft, sie in das UNESCO-Weltdokumentenerbe aufnehmen zu lassen.
Wenig überraschend, dass sie von der Mittelalter-Fan-Gemeinde in Musik und Dichtung begeistert aufgenommen wurden, in der Ausstellung ist eine beeindruckend lange Liste mit Vertonungen.
Hier eine Aufnahme von Corvus Corax und Katja Moslehner:
Die Merseburger Altstadt im Saaletal ist klein, aber wunderschön. Beim Gang durch einige enge Gässchen fühlte ich mich wie auf einer Zeitreise. Dieses Viertel und der Einblick in die Denkweise einfacher Menschen vor über 1000 Jahren durch die Zaubersprüche haben mich gefesselt. Ohne naturwissenschaftliches und medizinisches Wissen muss die Welt oft furchterregend gewesen sein. Dass solche Zaubersprüche mit der Nennung heidnischer Götter in einer Gebetssammlung aufgeführt waren, zeigt, wie angewandt und praktisch ausgelegt der christliche Glaube dieser Zeit war und wie neuer und alter Glaube miteinander vereinbart wurden. Flüche und Segen hielten sich auch danach noch für Jahrhunderte, gerade Flüche erscheinen mir dabei wenig christlich (Am Themseufer haben wir mal Mudlarker getroffen und die Scherbe eines Pisspotts gefunden: Um 1600 war es nicht ungebräuchlich, bei einem Hexenschuss oder anderen Problemen den gefüllten Pisspott mit Nadeln und Glasscherben zu ergänzen und unters Bett zu schieben, um es der Hexe heimzuzahlen).
Fortsetzung folgt: Die Himmelsscheibe von Nebra
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