Dachau kennt man heute vor allem als Ort des ersten Konzentrationslagers in Deutschland. Es bestand seit 1933 und vor ein paar Tagen war der 70. Jahrestag seiner Befreiung. Man geht davon aus, dass mehr als 40.000 Menschen im KZ Dachau ums Leben kamen. Die Stadt Dachau hat lange gebraucht, um die mörderische Seite ihrer Geschichte nicht mehr zu verdrängen, erst in den 1990er Jahren hat sich die Stadtpolitik ernsthaft dem Grauen gestellt, das wohl für immer mit dem Namen Dachau verbunden bleibt. Mich beschäftigt die Geschichte Dachaus, weil ich hier seit mehr als 10 Jahren lebe – und weil es in Dachau auch verbrecherische Medizinversuche an Häftlingen gab. Die Spur der Verbindung von Heilen und Vernichten führt auch nach Dachau, sie begleitet als Menetekel mein Arbeitsgebiet Public Health. Man kann das alles im Internet und zahlreichen Büchern nachlesen.

Dabei stand Dachau auch einmal für Kunst und Kultur, also für die guten Seiten des menschlichen Daseins. Legendär ist die Künstlerkolonie Dachau Anfang des 20. Jahrhunderts, beispielsweise haben Max Liebermann und Lovis Corinth vorübergehend in Dachau gelebt und gearbeitet. Dieser Teil der Geschichte Dachaus bleibt überschattet von dem, was die Nazis aus Dachau gemacht haben. Aber Dachau ist natürlich auch eine Stadt, in der Menschen leben und in der auch wieder Kunst und Kultur ihren Platz haben.

Heute Nacht, oder jetzt nach Mitternacht schon gestern, gab es eine tolle Kunstaktion in Dachau – die vierte „Late Night Dachau“, eine “Shuttle-Lesung“, bei der in verschiedenen ungewöhnlichen Veranstaltungsorten Lesungen stattfinden: in der Kantine der Verkehrsbetriebe Dachaus beispielsweise, oder in einem Friseursalon, im Arbeitszimmer des Dachauer Oberbürgermeisters oder im Dachauer Gitarrenzentrum. Die Verkehrsbetriebe haben das Ganze mit einem Shuttlebus, Sonderlinie 999, bequemlichkeitsfördernd verbunden. Die manchmal sehr kleinen Räumlichkeiten waren trotzdem nicht überlaufen, das Ganze hatte ein sehr gemütliches Ambiente.

Da wir uns hier auf Scienceblogs so gerne über die Alternativmedizin lustig machen: Auch dazu gab es eine Lesung, und zwar von Jaromir Konecny, einem Münchner Autor mit tschechischen Wurzeln. Promovierter Chemiker außerdem, man ahnt, dass er geistig verdünnten Heilmethoden nicht ganz unbefangen gegenübersteht. Er hat seine noch nicht in Buchform veröffentlichte Geschichte „Die wunderbare Welt von Karin“ vorgetragen, hier ein Auszug:

„Wie für viele rechtschaffene Menschen in Niederbayern hat der Dorfpfarrer auch für Karin eine Leit- und Vaterersatzfigur gespielt. Mit 18 hat Karin locker das Abi geschafft und somit das intellektuelle Niveau ihres Pfarrers überschritten. Als der Pfarrer Karin wieder mal mit der unbefleckten Empfängnis kam, sagte sie ihm, „du befriedigst mich nicht mehr“, trat aus der katholischen Kirche aus und begann nur an Sachen zu glauben, die der Vernunft nicht widersprechen: An die heilende Kraft der Steine, Schutzengel, Homöopathie und dass spirituell veranlagte Frauen von Außerirdischen entführt und zu Trägerinnen des Lichts initialisiert werden.“ Die Geschichte geht dann weiter mit der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für Karin: „Karin besaß schon alles, was vom Versagen der Aufklärung im Abendland zeugte: Pendel zum Auspendeln von mit Cäsium unbelastetem Gemüse, aktivierte Ziegelsteine für 180 Euro, homöopathische Mittel in so hohen Verdünnungen, dass nicht einmal ein Molekül des eigentlichen Wirkstoffs drin vorkam und die homöopathische Zuckerpille nur dank ihrer Erinnerung an den Wirkstoff effektiv heilte, und eine Katze, die die Strahlen aus dem Fernsehgerät auf sich zog, um die Strahlenbelastung im Wohnzimmer niedrig zu halten. Sogar der Dildo in Karins Nachttisch entpuppte sich leider als Orgon-Strahler! All diese Geräte heilten laut Anleitung mehrere Krankheiten auf einmal und ganz ohne Nebenwirkungen! Das beeindruckte mich, auch wenn ich selbst als ein alter Tscheche nach dem Motto lebte: Ohne Nebenwirkung keine Wirkung, je schlimmer der Kater, umso besser der Rausch!“

Wie es weitergeht – eine witzige Geschichte darum, was man sieht und was man glaubt – wird nicht verraten, irgendwann kann man sie in einem Buch von Jaromir Konecny nachlesen. Vielleicht auch noch anzumerken: Angeblich, so erzählt er es zumindest, wurden seine Auftritte über sein mittlerweile verfilmtes Buch „Doktorspiele“ vor ein paar Jahren in Berliner Schulen verboten. Ja, er schreibt auch ziemlich zotige Geschichten, für die Jugend von gestern vermutlich nicht immer jugendfrei. In ein paar Tagen erscheint sein neues Buch „Falsche Veilchen“ bei dtv. Seine Lesung, mit leichtem tschechischen Akzent, war für mich einer der Höhepunkte dieser etwas anderen Dachauer Pendeltour – bei einem insgesamt runden und gelungenen Programm. Einen aktivierten Ziegelstein für 180 € gab es leider nicht zu kaufen, aber das wäre dann auch eine andere Geschichte.

Kommentare (5)

  1. #1 Bernd
    16. Mai 2015

    ” … was die Nazis aus Dachau gemacht haben …”
    besser
    “… was die Deutschen aus Dachau gemacht haben …”
    oder
    “… was die deutsche Barberei aus Dachau gemacht hat …”

    Die Nazis fielen 1933 nicht vom Himmel.

  2. #2 Alisier
    16. Mai 2015

    Vielen Dank für den Tipp! Jaromir Konecny kannte ich noch nicht.
    Und zu Dachau: ich war recht verblüfft und geschockt, als ich als Jugendlicher feststellen musste, das das Lager nicht irgendwo im Wald stand, sondern inmitten der angeblich Ahnungslosen.

  3. #3 Joseph Kuhn
    16. Mai 2015

    @ Bernd:

    Sie fielen in der Tat nicht vom Himmel. Bei Götz Aly kann man die innige Verbindung von Volk und Führer, die Vorteilsnahme der kleinen Profiteure, nachlesen.

    @ Alisier:

    Das KZ selbst ist etwas außerhalb, aber das ehemalige SS-Gelände grenzt direkt an die Wohnhäuser und die Häftlinge waren natürlich im Ort präsent, viele mussten z.B. vom Bahnhof durch die heutige Friedenstraße zu Fuß ins Lager marschieren.

  4. #4 rolak
    16. Mai 2015

    entpuppte sich leider

    ‘leider’ *herr*lich* – wobei ich mir die Freiheit nehme, es automatisch auf den ersten Satzteil zu beziehen.

    etwas außerhalb

    Ok, Joseph, mir ist nur die Lage ab den 1990ern bekannt, nicht vor den dazwischenliegenden 50 Jahren StadtWachstum – doch schon damals stellte sich das Gelände als Randbezirk dar, nicht durch etwas Abstand verborgen wie zB (funktionsbedingt) Buchenwald mit seinen Dependancen.
    Zu der gelebten Normalität kam übrigens grad letztens noch die wahrlich bedrückende Doku “Der Anständige“, leider nicht mehr in der normalen und nocht nicht in der ganz großen(YT) Mediathek. Wieder mal schwer anzusehen, nur mit Pausen und viel Beruhigung.

    ShuttleLesung, interessantes Konzept, gibts vielleicht sogar hier auch, doch manche Veranstaltungen sind mir gegenüber gräßlich gut versteckt. Vorgestern wahrgenommen, rechtzeitig nach dem Ende – man beachte nur das dezente ‘5.’ im Titel^^

  5. #5 Joseph Kuhn
    16. Mai 2015

    @ rolak:

    “rechtzeitig nach dem Ende”

    Ja, seltsam, unter dieser Form der Postmoderne leide ich auch immer öfter. Ich schwanke noch, ob es sich dabei um ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom meinerseits oder um eine unfreiwillig konspirative Veranstaltungsorganisation handelt.