Man erinnere sich: Das Grundsatzprogramm der AfD enthielt im ersten internen Entwurf vom März 2016 einen neoliberalen Horrorkatalog mit Vorschlägen zulasten eben jener „kleinen Leute“, denen die AfD eine Stimme geben will. Im beschlossenen Programm im Mai 2016 waren diese Vorschläge dann weitgehend und ersatzlos gestrichen, man war sich der Brisanz des Themas offensichtlich bewusst geworden. Gesundheitspolitik war dadurch zu einer Leerstelle im Grundsatzprogramm der AfD geworden.
Jetzt liegt der Leitantrag für das Wahlprogramm 2017 vor. Es enthält anders als das Grundsatzprogramm wieder ein Kapitel zur Gesundheitspolitik. Überschrift: „Unser Gesundheitssystem in Gefahr“. Klar, ohne Alarmismus geht es bei der AfD nicht, schließlich lebt die Partei als Protestpartei im permanenten Ausnahmezustand. Dazu passend der Einstieg: „Die Finanzierung unseres Gesundheitswesens wird durch allgemeine politische Fehlentwicklungen bedroht: Die von den Kassen zu tragenden Kosten für Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber laufen aus dem Ruder (…).“ Den Punkt hat vielleicht wieder Frau Weidel hingeschrieben, er ist heute so falsch wie zu der Zeit, als sie ihn zum ersten Mal in die AfD-Gerüchteküche einbrachte. Die Finanzreserven in der GKV sind inzwischen auf 25 Mrd. Euro gestiegen.
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Inhaltlich spricht die AfD diesmal ganz andere Punkte an als in ihrem desaströsen Entwurf 2016. Das meiste davon ist nicht weiter aufregend und findet sich auch auf der Agenda der anderen Parteien: Man setze sich für eine flächendeckende, möglichst wohnortnahe Versorgung ein, man wolle die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum stärken, etwas gegen den Pflegenotstand tun (u.a. verbindliche Personalschlüssel einführen und die Attraktivität der Pflegeberufe erhöhen), mehr in die Krankenhäuser investieren, die Versorgung mehr über Hausärzte steuern und die Notfallambulanzen an den Krankenhäusern entlasten. All das könnte man als Unterstützung der AfD für die gesundheitspolitische Agenda der Regierungsparteien sehen. Vermutlich ist das als Angebot an die bürgerlichen AfD-Wähler gedacht, das emotionalisierte Protestpotential wird sich dafür wenig interessieren.
Das wird schon eher aufmerksam bei der Forderung, das Gesundheitspersonal künftig vermehrt in Deutschland auszubilden und dass Fachkräfte aus dem Ausland gute Deutschkenntnisse haben sollen. Sprachzertifikate sind allerdings schon heute bei der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse nötig. Gegen einen Ausbau der Ausbildungskapazitäten in Deutschland gibt es nichts einzuwenden, sinnvoll wäre aber auch die qualitative Weiterentwicklung der Ausbildung in vielen Berufen. Pflegekräfte von den Philippinen sind z.B. in der Regel besser ausgebildet als deutsche Pflegekräfte.
… mit Ressentiment gewürzt
Typisches AfD-Ressentiment bricht sich Bahn in der Forderung, das Sozialversicherungsabkommen mit der Türkei zu kündigen, weil darüber auch im Ausland lebende Familienangehörige mitversichert sind. Das hatte vor einigen Jahren die NPD schon einmal hochgespielt. Hintergrund des Abkommens ist, dass man 1964, als das Abkommen in Kraft trat, den „Gastarbeitern“ die Sorge um ihre Familien nehmen wollte. Der Vorteil für die Krankenkassen hierzulande: Wenn sich die Familienangehörigen in der Türkei behandeln lassen, ist das billiger, als wenn sie es hier tun. Die Gesamtkosten, die der türkischen Sozialversicherung pauschaliert überwiesen werden, sind absolut marginal. Der SPIEGEL sprach einmal von 10 Mio. Euro im Jahr 2009. Danach, ob es neuere Zahlen gibt, habe ich bei der Summe gar nicht mehr gesucht. Dass der Punkt im Leitantrag den gleichen Raum einnimmt wie die oben genannten, darf nachdenklich machen.
Dann gibt es noch einen Punkt zur elektronischen Gesundheitskarte. Hier wendet sich die AfD dagegen, dass die Daten später einmal in einer Datenbank zusammengeführt werden. Darüber kann man diskutieren: hier stehen auf der einen Seite Datenschutz und das Recht an den eigenen Daten, auf der anderen Seite die Weiterentwicklung der Versorgungsqualität durch Versorgungsforschung. Versorgungsforschung gibt es nicht ohne Daten.
Alternativmedizin welcome
Im letzten Punkt des Kapitels macht sich die AfD für alternative Behandlungsmethoden stark: „Diese können bei Einhaltung von zu definierenden Qualitätsstandards eine sinnvolle Ergänzung zur herkömmlichen Medizin darstellen. In jedem Fall ist eine ganzheitliche Betrachtung und Behandlung des Patienten notwendig, um der Zunahme von chronischen Erkrankungen und von Therapieresistenzen entgegenzuwirken.“ Das kann hier einmal unkommentiert stehen bleiben.
Im Kapitel zur Sozialpolitik gibt es noch einen Punkt, der die Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung bei der Krankenversicherung fordert, dagegen spricht nichts. Lustig ist der Freudsche Verschreiber der Antragsautoren: „Die Risiken der Kostensteigerungen im Gesundheitswesen allein auf die Arbeitnehmer abzuwälzen, wie es die letzten Bundesregierungen getan haben, ist unsystematisch.“ Möchte die AfD das künftig „systematischer“ tun? Hoffentlich nicht, vermutlich hatte sich die neoliberale AfD-Tastatur nur gegen das Wort „unsolidarisch“ gesträubt.
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