Der Titel ist ziemlich polemisch, klar, wird aber gleich etwas verständlicher. Mich nervt, wie unüberlegt zurzeit von verschiedenen Seiten die Impfpflicht für Kinder gefordert wird. Anlass sind – wieder einmal – die Masern. Was für und gegen eine Masernimpfpflicht spricht, speziell bei Kindern, ist hier auf Gesundheits-Check schon mehrfach diskutiert worden, systematischer und beiläufiger.
An der aktuellen Impfpflichtdebatte stören mich vor allem folgende Punkte:
• Die Impfpflicht wird von ihren Befürwortern für Kinder gefordert. Bei den Kindern haben wir aber ausreichende Impfquoten, noch nicht rechtzeitig nach der Empfehlung der STIKO, aber zumindest bis zum Einschulungsalter. Das spricht nicht für das massenhafte Treiben von ideologisch verbohrten Impfgegnern unter den Eltern. Die zweifelsfrei bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Eltern vorhandene Impfmotivation – eine intrinsische Motivation, wie Psychologen sagen – würde man mit einer Impfpflicht im besten Fall etwas unterstützen, im schlechtesten Fall aber zerstören, weil es zu Reaktanz gegenüber dem äußeren Zwang kommen könnte.
• Ein zentrales Hindernis auf dem Weg zu einer besseren Durchimpfung der Bevölkerung sind Wissensdefizite, wie Umfragen der BZgA zeigen. Warum fordern dann die, denen Impfaufklärung und Impfmotivation nicht ausreichen, nicht einen Ausbau des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, damit mehr aufsuchende Prävention in Kitas und Schulen und geeigneten Settings im Erwachsenenalter möglich wird? Nach jahrzehntelangem Personalabbau hat der Öffentliche Gesundheitsdienst derzeit in vielen Bundesländern gar keine Kapazitäten mehr, um in die Schulen zu gehen, oder nur noch sehr eingeschränkt. Soll die Impfpflicht am Ende nur vermeiden, dass alternativ ein paar Euro mehr für den Öffentlichen Gesundheitsdienst auszugeben wären? Lieber Zwang gegen Eltern als die Staatsabbauideologie zu revidieren? Wobei, wer soll den Zwang eigentlich durchsetzen?
• Manche fordern, ungeimpften Kindern zumindest den Zugang zu Kita und Schule zu verweigern. In die Kita muss man nicht, aber in die Schule schon. Wollen die forschen Impfpflichtstrategen also die Schulpflicht abschaffen? Oder haben sie über solche Petitessen gar nicht nachgedacht?
• Die Impfpflicht wird, beispielsweise von der CDU, gottseidank noch nicht vom CDU-Minister Gröhe, auch für Krankheiten wie Tetanus gefordert. Mit welcher Begründung eigentlich? Zwischen Menschen übertragbar ist Tetanus nicht, ausrotten kann man ihn auch nicht.
• Besonders virulent wird die Impfpflichtdebatte immer dann, wenn wieder jemand – in der Tat vermeidbar – an den Masern gestorben ist. Wenn diese Sterbefälle menschlich nicht so tragisch wären, könnte man sagen, sie zeigen, dass Dummheit und Ignoranz tödlich sein können. Auch an Tetanus sterben übrigens bei uns immer wieder ein paar Menschen, noch mehr an Meningokokken, nicht wenige langfristig an HPV-Infektionen, viel viel mehr an der Influenza: Müsste man also konsequenterweise nicht die Impfpflicht bei allen potentiell tödlich verlaufenden impfpräventablen Krankheiten fordern? Und, siehe oben, natürlich nicht nur für die Kinder, sondern für alle? Also die totale Impfpflicht? Und warum dann nicht auch ein striktes Rauchverbot, die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 90 Stundenkilometer, und wenn wie beim Tetanus letztlich die Drittgefährdung nicht entscheidend ist, auch eine Obergrenze für Bier und Schweinebraten?
Wobei, richtig rund wird die Perfektionierung der präventiven Bevormundung erst, wenn sie mit der lebenslangen diagnostischen Rundum-Überwachung verbunden wird, von der verpflichtenden pränatalen genetischen Untersuchung bis zur implantatbasierten Kontrolle der Herzfunktion im Alter. Das wird (hoffentlich) nicht kommen, da wäre wohl jedem klar, dass das alte Phantasma des gesunden Volkskörpers an die Stelle des liberalen Gewandes unseres Gemeinwesens getreten ist. Aber die in der Diskussion um die Masernimpfpflicht zum Ausdruck kommende Logik präventiver Begründungen ist es nicht, die es verhindert.
Wenn die präventive Logik hinter der Impfpflicht aber zu solchen Schlussfolgerungen führt, wären wir gut beraten, diese Logik zu überdenken und z.B. die funktionale Effizienz von Präventionsmaßnahmen wie einer Impfpflicht mit anderen Zielsetzungen unseres Gemeinwesens, vor allem seiner liberalen Grundorientierung, sorgfältig abzuwägen – unabhängig davon, was formaljuristisch machbar ist und was nicht. Wenn es um die Gesundheitsschutzverpflichtungen der Industrie geht, etwa im Gefahrstoffbereich, tun wir das schließlich auch. Fällt dann am Ende doch die Entscheidung für eine Masernimpfpflicht bei Kindern, sollten wir zumindest sagen können, warum wir den dazu herangezogenen Begründungen nicht immer weiter bis zur allumfassenden Gesundheitspflicht folgen wollen.
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