Als Bürger steht man einigermaßen fassungslos vor der „Dieselgeschichte“. Da manipulieren Autokonzerne den Abgasausstoß ihrer Produkte, um sich Vorsprung durch Technik zu sichern, die Politik drückt die Augen zu und will die Aufregung darüber nicht verstehen, zumal sie selbst seit Jahren einen lockeren Umgang mit den Schadstoffgrenzwerten in der Außenluft pflegt, die Deutsche Umwelthilfe nutzt vor Gericht die Rechtsverbindlichkeit dieser Grenzwerte, um die Politik trotzdem zum Hinsehen zu zwingen, alle reden immer wieder miteinander und am Ende läuft es darauf hinaus, dass viele Autobesitzer in Deutschland neue Autos kaufen müssen, wenn sie weiter in die Städte fahren wollen. Der VW-Konzern, in den USA mit zweistelligen Milliardenbeträgen für seine Betrügereien zur Kasse gebeten, muss in Deutschland trotz eines Rekordgewinns von mehr als 11 Mrd. Euro 2017 (mehr als doppelt so viel wie 2016) geschont werden und die anderen Autofirmen können eh nichts dafür, dass aus ihren Autos mehr Dreck rauskommt als versprochen, der Staat hat ihnen davon ja nie etwas gesagt.
Letzte Woche hat der Lungenarzt Dieter Köhler, der seit Beginn des Dieseldramas einen Feldzug gegen die Grenzwerte bei den Luftschadstoffen in der Umwelt führt, eine Hundertschaft von Gleichgesinnten mobilisiert, um ein Positionspapier seiner eigenen Fachgesellschaft vom letzten November zu konterkarieren. Wenn hundert Lungenärzte und gefühlte Lungenfachleute Köhler folgen, sollte man allerdings im Auge behalten, dass allein die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie 4.000 Mitglieder hat, wie Werner Bartens vergangenen Donnerstag in der Süddeutschen Zeitung schrieb. Und es geht beileibe nicht nur um Lungenkrankheiten.
Köhler scheint, soweit man das von außen beurteilen kann, nicht von der Industrie bezahlt zu sein, auch wenn an seinem „Gegenpapier“ Industrieleute wie Matthias Klingner (Leiter des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme) und Thomas Koch (Leiter des Karlsruher Instituts für Kolbenmaschinen, früher in der Daimler-Motorenentwicklung tätig) maßgeblichen Anteil haben. Was ihn reitet, sich zum Dieselexperten aufzuschwingen, weiß man nicht. „Ich gehöre zu den wenigen Experten in diesem Bereich“, zitiert ihn Bartens. Allzuviel Vertrauen sollte man allerdings in die Fachkompetenz eines Mannes, der vom SWR mit der Aussage zitiert wurde, 900.000 Mikrogramm Stickoxide pro Kubikmeter würden vielleicht mal ein paar Asthmatikern Probleme machen, nicht setzen. Wer Punkt und Komma verwechselt, bringt vielleicht auch sonst manches durcheinander. Ich habe ohnehin zunehmend den Eindruck, dass nicht wenige pensionierte Chefärzte zu kompetenzgeminderter Querulatorik neigen, vielleicht eine pathologische Spätfolge ihres lange geübten Dominanzverhaltens.
Durcheinander: Das ist das Stichwort, das bei diesem Thema alle Aufmerksamkeit verdient. Ich will daher versuchen, ein paar Problemebenen, die bei der Dieseldebatte immer wieder, vermutlich auch immer wieder absichtlich, miteinander vermengt werden, auseinanderzudröseln:
1. Eine sehr grundsätzliche Frage ist, ob Dieselabgase mit ihren Bestandteilen Feinstaub und Stickoxiden gesundheitsschädlich sind, inwiefern sie kurzfristig oder langfristig gesundheitsschädlich sind, welche Effekte Tagesspitzen haben, oder wiederholte Tagesspitzen, und wie sich das mit unterschiedlich vulnerablen Gruppen, z.B. Gesunden versus Asthmatikern, verhält.
2. Daran schließt sich die Frage an, ob die aktuellen Grenzwerte sinnvoll sind, hier insbesondere die Grenzwerte für Schadstoffe in der Außenluft. Aber: Ist es überhaupt sinnvoll zu fragen, ob man beim Überschreiten dieser Grenzwerte mit Gesundheitsschäden rechnen muss, oder ist es vernünftig, nach dem Vorsorgeprinzip die Grenzwerte weit genug von zweifelsfrei gefährlichen Werten wegzuhalten?
3. Eine andere Ebene ist die Frage danach, wie belastet unsere Luft ist, wie sich die Schadstoffbelastung der Luft in den letzten Jahren verändert hat und welchen Anteil daran Dieselabgase haben, oder Autos insgesamt, auch die Benziner, auch der Reifenabrieb, oder der Verkehr überhaupt, auch die Straßenbahnen z.B. mit ihrem Bremssand?
4. Wieder etwas anderes ist die Frage, was man gegen überschrittene Grenzwerte in der Außenluft tun sollte. Sind Fahrverbote geeignet, die Luftqualität zu verbessern? Wenn ja, wie müssten sie aussehen, damit die Schadstoffe nicht nur in Nebenstraßen verlagert werden? Und welche Alternativen gäbe es? Warum wurden nicht die milliardenschweren Gewinne der Autoindustrie, die sie mit ihren grenzwertüberschreitenden Modellen ein Stück weit auch ergaunert haben, für andere Lösungen herangezogen?
5. Das bevorzugte Terrain von industriepolitisch Interessierten wie Verschwörungstheoretikern gleichermaßen: Welche Kämpfe werden da im Hintergrund ausgetragen und wer schließt da mit wem welche Teufelspakte, um die eigenen Ziele zu erreichen? Und wenn man Hinweise darauf hat, dass hier auch ein Spiel gegen die deutsche Autoindustrie gespielt wird: Werden deswegen Schadstoffe gesünder und die Grenzwertüberschreitungen kleiner?
6. Wie soll es überhaupt beim Thema Mobilität weitergehen? Müsste nicht zumindest die Politik etwas weiter denken, neue Verkehrskonzepte ins Auge fassen, statt z.B. den Vorschlag von Tempolimits auf Autobahnen gleich als „gegen jeden Menschenverstand“ zu denunzieren?
7. Der Gebrauch des Worts „gesunder Menschenverstand“ durch CSU-Verkehrsminister (Ramsauer, Dobrindt, Scheuer) mag noch grundsätzlichere Fragen aufwerfen, das sei einmal dahingestellt, aber all die anderen Fragen sind ohne wissenschaftliche Studien nicht zu beantworten. Haben wir ausreichend Daten für alle Fragen? Sind die Daten da, wo wir welche haben, verlässlich genug, um Entscheidungen zu treffen? Werden Unsicherheiten bei der Berechnung instrumentalisiert? Wären weniger Anstrengungen zur Luftreinhaltung nötig, wenn man den Grenzwert für Stickstoffdioxid in der Außenluft von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft auf 100 Mikrogramm erhöhen würde? Hätte das nur Vorteile („Fahrverbote ade“) oder hätten statistisch Menschen, die namentlich nie bekannt werden, doch Nachteile zu tragen?
8. Wie könnte man gesellschaftlich zu einem Konsens kommen, wie viele statistische Sterbefälle oder – der bessere Indikator – wie viele verlorene Lebensjahre man in Kauf nehmen will? Wir schaffen ja auch trotz jährlich gut dreitausend Verkehrstoten die Autos nicht ab. Was wäre hier eigentlich abzuwägen, Absatzzahlen gegen Tote? Freie Fahrt für freie Bürger gegen Tote? Notwendige Mobilität gegen Tote? Und würde das die Autohersteller dazu bewegen, Abgasgrenzwerte ernst zu nehmen oder wäre das für sie eher ein Freibrief, sich weiter nicht allzu sehr darum zu bemühen?
Dass ich auf alle Fragen gute Antworten hätte, kann ich wirklich nicht behaupten. Aber dass es, frei nach Henry L. Mencken, auf alle diese Fragen eine einfache Antwort gibt – klar, einleuchtend und falsch -, dessen bin ich mir sicher, auch, dass manche Kommentare, die kommen, mir darin Recht geben werden.
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