Wissenschaftspluralismus und Wissenschaftsfreiheit
Vor ein paar Tagen hat die Ärztezeitung berichtet, eine Gruppe um Peter Matthiessen, den Vorsitzenden des Sprecherkreises des Dialogforums Pluralismus in der Medizin, habe eine „Homöopathie-Deklaration“ veröffentlicht, die den Streit um die Homöopathie deeskalieren solle. Wie die Ärztezeitung auf die Idee mit der Deeskalation kommt, weiß ich nicht, die „Homöopathie-Deklaration“ zieht höchst aggressiv vom Leder, da ist von „eschatologischer Verbissenheit“ über „Totalitarismus“ bis zur Missachtung der Menschenwürde durch die Homöopathiekritik kein Vorwurf zu albern, um nicht als Munition verwendet zu werden. Aber darum geht es mir nicht.
Matthiessen hat seine These, die Homöopathie dürfe man nicht als unwissenschaftlich ablehnen, weil dies dem Grundsatz des Pluralismus in der Medizin widerspreche und eine „totalitäre Ideologie“ propagiere, in der letzten Zeit wiederholt publiziert. Jetzt eben eingebaut in eine „Homöopathie-Deklaration“.
Die Argumente, die die Autorengruppe vorbringt, sind die immergleichen. Ich will nur auf eines eingehen, die nach Matthiessen vom Grundgesetz geschützte Wissenschaftsfreiheit. Die Autorengruppe schreibt: „Der vorliegende Artikel verweist (…) darauf, dass dem Staat nach §5 Abs. 3 des Grundgesetzes ein Wissenschaftsrichtertum im Sinne der Parteiergreifung für ein bestimmtes Paradigma grundsätzlich untersagt ist.“ Art. 5 (3) GG sagt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Das heißt aber nicht, dass man nun beliebig auf alles das Etikett „Wissenschaft“ kleben kann und damit den Anspruch vertreten, an den Hochschulen zu lehren und zu forschen. Kein Zweifel besteht darüber, dass Forschung über die Homöopathie durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt ist. Sie kann natürlich auch Gegenstand der Lehre sein, wenn ihre Annahmen erklärt und diskutiert werden. Aber sie kann nicht als eigenständige Form der Wissenschaft neben der „normalen“ Wissenschaft stehen und dort wie im Arzneimittelrecht oder im Sozialrecht den Schutz durch eine Art wissenschaftstheoretischen Binnenkonsens beanspruchen. Warum dann nicht gleiches Recht für die Astrologie? Offensichtlich setzt der Grundrechtsschutz nach Art. 5 (3) voraus, dass das, was als Wissenschaft deklariert wird, auch wirklich Wissenschaft ist.
Das Verständnis, was Wissenschaft ist, ist historisch nicht unveränderlich. Dass die Naturwissenschaften kein Buchwissen sind, sondern empirische Wissenschaften (natürlich mit nichtnaturalistischen Voraussetzungen), hätte man im Mittelalter in kirchlichen Kreisen wohl bestritten. Heute besteht kein Zweifel, dass das Wissen darüber, wie die Welt beschaffen ist, nicht mehr aus einem Buch abgelesen werden kann, in dem steht, dass sie in sechs Tagen erschaffen wurde. Nicht nur, dass die Sonne nicht stillsteht über Gibeon, wenn sie es täte, wäre die Bibel dafür keine wissenschaftlich akzeptable Quelle.
Historische Geländegewinne
In der Medizin hatte der Bundestag (Drucksache 7/5091 vom 28.04.76) der Redeweise vom Wissenschaftspluralismus den Weg geebnet. In der Debatte um die Reform der Arzneimittelzulassung konnte die Lobby der besonderen Therapierichtungen damals den Binnenkonsens im Arzneimittelrecht verankern, und zwar genau mit dem Argument des Wissenschaftspluralismus:
„Nach einmütiger Auffassung des Ausschusses kann und darf es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, durch die einseitige Festlegung bestimmter Methoden für den Nachweis der Wirksamkeit eines Arzneimittels eine der miteinander konkurrierenden Therapierichtungen in den Rang eines allgemein verbindlichen „Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse” und damit zum ausschließlichen Maßstab für die Zulassung eines Arzneimittels zu erheben. Der Ausschuß hat sich vielmehr bei der Beschlußfassung über die Zulassungsvorschriften, insbesondere bei der Ausgestaltung der Anforderungen an den Wirksamkeitsnachweis, von der politischen Zielsetzung leiten lassen, daß sich im Zulassungsbereich der in der Arzneimitteltherapie vorhandene Wissenschaftspluralismus deutlich widerspiegeln muß.“
Historisch überholte Standpunkte
Man kann den Abgeordneten von damals vielleicht zugutehalten, dass die meisten gar keine fundierte Vorstellung über Methoden der Wirkungsforschung hatten. Das wird heute nicht viel anders sein. Hinzu kommt, dass damals allgemein die Vorstellungen darüber, wie Wirkungen von Arzneimitteln nachzuweisen sind, nicht sehr entwickelt waren. Das ganze Know How um RCTs und Verblindung, auch im Umgang mit „individuell ermittelten“ Homöopathika, hat sich in den Jahren danach ausdifferenziert. Man würde heute auch nicht mehr wie damals Unsicherheit in Methodenfragen gleichsetzen mit der Möglichkeit eines grundsätzlich anderen Wissenschaftsverständnisses – ein Kategorienfehler, der den Abgeordneten damals vermutlich wirklich nicht bewusst war.
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