Die Masernimpfung steht in alternativmedizinischen Kreisen besonders in der Kritik. Sie gilt dort vielfach als medizinisch unnötiger, wenn nicht sogar schädlicher Eingriff in den natürlichen Lauf der Dinge. Oft sind die Argumente, die dabei vorgebracht werden, medizinisch schlicht falsch und in der Sache leicht zu widerlegen. Es gibt aber auch Argumente, die auf den ersten Blick ganz überzeugend wirken und denen Impfbefürworter manchmal ungewollt Unterstützung geben. Beispielsweise findet man als Beleg für den Nutzen der Masernimpfung immer wieder Grafiken wie diese:
Die Grafik zeigt, dass die Masernerkrankungen erst mit der Verfügbarkeit der Impfung von ihrem hohen Ausgangsniveau zurückgingen. Dagegen verweisen manche Impfkritiker darauf, dass medizinhistorische Daten einen Rückgang der Masern schon vor der Impfung zeigen. So wird z.B. im Rundbrief 1/2013 der impfkritischen Gruppe “Libertas & Sanitas“ unter anderem mit der berühmten Grafik Thomas McKeowns zu den Masernsterbefällen in England und Wales argumentiert:
Bei den Masern kann man eine analoge Entwicklung – bezogen auf die Sterbefälle – auch für Deutschland zeigen, ähnliche Zeitreihen gibt es für eine Reihe weiterer Infektionskrankheiten und manchmal gilt dies sowohl für die Erkrankungen als auch für die Sterbefälle. Die Grundthese McKeowns, dass der Rückgang vieler Infektionskrankheiten bzw. bei den Masern zumindest der ernsten Verläufe auf die Verbesserung der Lebensbedingungen zurückzuführen ist und nicht auf die Impfung, ist unbestritten. McKeown taugt allerdings nicht als Kronzeuge einer pauschalen Impfkritik, er sieht trotz seiner Grundthese den Nutzen von Impfungen und differenziert auch zwischen den verschiedenen Infektionskrankheiten – nicht alle folgen nämlich dem „Masern-Muster“.
Dennoch: Richtig bleibt, dass die Masernsterblichkeit bereits vor der Verfügbarkeit eines Impfstoffs zurückging. Was die Maserninfektionen selbst angeht, ist davon auszugehen, dass diese hochansteckende Erkrankung in ungeimpften Bevölkerungen früher oder später fast alle erreicht, hier dürfte der Einfluss der Impfung auf den zeitlichen Verlauf also ausgeprägter gewesen sein.
Belegt die Entwicklung der Masernsterblichkeit nun, wie Impfkritiker meinen, dass die Masernimpfung bevölkerungsmedizinisch tatsächlich nutzlos ist? Mit dem gleichen Argument könnte man argumentieren, die Gurtpflicht im Auto sei nutzlos: Die Zahl der Verkehrstoten war in Deutschland 1970 am höchsten und ging bereits vor Einführung der Gurtpflicht 1976 zurück. Auch hier wirken einfach nur mehrere Ursachen zusammen, z.B. Geschwindigkeitsbegrenzungen, die Senkung der Promillegrenze, die Verbesserung der Sicherheitstechnik, des Rettungsdienstes und der Unfallmedizin – und eben ab 1976 die Gurtpflicht.
Das Argument der Impfkritiker wäre stichhaltig, wenn es um die Behauptung ginge, allein die Impfung sei für den Rückgang der Sterbefälle verantwortlich. Diese Behauptung wäre in der Tat falsch. Aber damit wird die Masernimpfung nicht begründet. Die Masernimpfung soll vielmehr eine Verringerung der Erkrankungszahlen herbeiführen, die anders, z.B. über säkulare Trends bei den Lebensbedingungen, nicht mehr erreichbar wäre. Auch die Pocken hätte man ohne Impfung nicht ausrotten können. Hinzu kommt, dass der Rückgang der Infektionskrankheiten kein „zivilisationsgeschichtliches Gesetz“ ist, nicht zuletzt Kriege und Naturkatastrophen zeigen immer wieder das Gegenteil.
Ob sich in der bevölkerungsmedizinischen Argumentation von Libertas & Sanitas eine neue Richtung der Impfkritik andeutet? Hin- und Herwechselnd zwischen dem Bestreiten von Kausalzusammenhängen und dem Bestreiten, dass das verbliebene Risiko ein öffentliches Interesse am Impfen begründet? Vielleicht auch mit neuen Bündnispartnern, was den Kampf gegen die „etablierte Wissenschaft“ angeht? Auf S. 16 des zitierten Rundbriefs wird ausgerechnet Günter Ropohl bemüht, ein leidenschaftlicher Streiter gegen den wissenschaftlichen Konsens beim Thema Passivrauchen. Ob da an Wissenschaftskritik zusammenwächst, was zusammengehört?
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Nachtrag 8.12.2013: MartinB weist in seinem Kommentar #2 zu Recht auf den Unterschied zwischen Erkrankungen in Grafik 1 und Sterblichkeit in Grafik 2 hin. Das ist vor allem bei den Masern relevant. Die zweite Grafik widerspricht der ersten nicht, mit ihr führen Impfkritiker eigentlich eine Relevanzdebatte über die bevölkerungsmedizinische Bedeutung der Masern und der Masernimpfung heute. In der ersten Fassung des Blogbeitrag war das nicht deutlich geworden, in der überarbeiteten Version ist es hoffentlich besser, aber mir scheint, es lohnt sich zu versuchen, die Argumente noch klarer zu bekommen – vielleicht gelingt das in der Diskussion ja.
Noch ein Nachtrag, 9.12.2013: Ein Kollege wies mich auf das Projekt “Tycho” an der University of Pittsburgh hin, das historische Daten zu übertragbaren Erkrankungen erschließt. Ein Artikel dazu ist soeben im New England Journal of Medicine erschienen: van Panhuis WG et al (2013) Contagious Diseases in the United States from 1888 to the Present. N Engl J Med. 2013 Nov 28;369(22):2152-8. Darin gibt es auch Daten zu Masern seit 1928, die die oben gezeigte CDC-Grafik stützen. Die Autoren gehen von 35 Mio. Fällen aus, die durch die Impfung vermieden wurden. Bei einer Letalität von 1:1000 wären das 35.000 Sterbefälle, keine vernachlässigbare Größe.
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