Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind. Dieses Lied hört man jetzt wieder überall. Die “Menschwerdung Gottes“ kann man vielseitig deuten, man muss kein Christ sein, um darin eine Metapher zu sehen, die philosophisch und wissenschaftlich noch nicht bis in die letzte Ecke ausgeleuchtet ist. Wie Geist und Materie, die Innen- und die Außenseite der Dinge zusammenhängen – man weiß es nicht. Es ist ein „Geheimnis“, gewissermaßen.
Ob etwas verloren ginge, wenn man dieses „Geheimnis“ lüften könnte? Eher nicht. Vermutlich würde an die Stelle des Unverstandenen etwas ganz Wunderbares und Erstaunliches treten. Warten wir’s ab.
Die Welt ist voller „Geheimnisse“, egal wohin man schaut. Ob in der Physik, ob in der Psychologie oder in der Philosophie, oder in der Politik und bei ihren Geheimdiensten. Manchen Geheimnissen werden wir noch auf die Spur kommen, früher oder später, manchen vielleicht nie.
So weit, so trivial. Eigenartig ist, dass an Weihnachten beständig selbst ansonsten rationale Menschen dazu neigen, dem Geheimnis reichlich gesunden Menschenverstand zu opfern. Weniger verwunderlich, aber genauso unnötig ist es, wenn Gläubige raunen, wo man deutlich sprechen kann. In der Süddeutschen Zeitung ist heute ein Artikel von Matthias Drobinski. Darin argumentiert er, dass wir „Räume des Unfassbaren“ brauchen würden, dass totale Transparenz ein „Verlust an Kultur und Menschlichkeit“ sei. Seine Beispiele reichen vom Privatleben, in dem jeder seine kleinen Geheimnisse hat, über die Versuche, uns durch Big Data zu berechnen bis hin zu eben jenem Kind in der Krippe. Keine Frage, wir brauchen Privatheit. In der Aushandlung dessen, was öffentlich sein soll und was nicht, liegt ein Charakteristikum der Moderne. So sehr das Private auch politisch ist, wie die 68er Bewegung proklamierte, so sehr muss das Private auch privat bleiben können, privat im Sinne von geschützt gegen ungerechtfertigte Zugriffe von außen. Google und die NSA sehen das anders, darüber wird man streiten müssen.
Aber warum muss man den Schutz des Privaten auf eine Ebene bringen mit der angeblich notwendigen Existenz eines metaphysisch Geheimnisvollen? Warum den Schutz des Privaten auf den Schutz des Unverstandenen ausdehnen? Der Sprung in der Logik des Arguments ist unübersehbar. Wie gesagt, es gibt Geheimnisse, die wir vielleicht nie ergründen, zumindest nicht sprachlich fassen und mitteilen können, weil die Abbildfunktion der Sprache Grenzen hat. Wittgenstein hat das im Tractatus so gesehen: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“ oder „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“, oder „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Schön formuliert. Er sagt nicht, wir brauchen das Geheimnis und sollen daher andächtig als mystisch respektieren, was wir nicht verstehen. Der von Matthias Drobinski bemühte Gebrauchswert des Weihnachtsgeheimnisses ist nicht mystisch, sondern mystifizierend – ein sentimentaler Blick zurück in vormoderne Zeiten. Weihnachtsstimmung vermutlich. Alle Jahre wieder …
… allen Leserinnen und Lesern frohe Weihnachten und alles Gute für 2015.
P.S.: Im letzten Jahr hatte ich Thomas Nagels Buch „Geist und Kosmos“ als Weihnachtslektüre empfohlen, ein Buch, das sich dem Zusammenhang von Geist und Materie auf einer ontologisch spekulativen Ebene nähert und in mancher Hinsicht an Hans Jonas 20 Jahre alte Aufsätze in „Gedanken über Gott“ erinnert. Man kann die Sache auch methodologisch angehen, ein Klassiker dazu ist „Erklären und Verstehen“ von Georg Henrik von Wright.
Kommentare (25)