Impfungen sind – mal ganz pauschal betrachtet – eine wirklich gute Sache. Die Pocken wurden so ausgerottet, die Kinderlähmung fast ausgerottet, viele andere Erkrankungen zurückgedrängt, viele Menschen geschützt, viel Leid vermieden.
Dass die Masern in Deutschland noch immer nicht eliminiert sind, ist höchst bedauerlich und führt immer wieder zu heftigen Diskussionen bis hin zu periodischen Forderungen nach einer Impfpflicht. Die Masern-Impfpflicht war mehrfach auch hier auf Gesundheits-Check Thema, zuletzt in etwas polemischer Form, ich will die Argumente dafür und dagegen nicht wiederholen. In Wissenschaftsblogs machen sich solche Debatten oft an den ideologischen Impfgegnern fest. Darunter gibt es schließlich in der Tat veritable Spinner, die den Glauben an die Fähigkeit des homo sapiens, vernünftig zu argumentieren, erheblich strapazieren können. Ein ideales Feindbild also. Die meisten Eltern lassen ihre Kinder aber gegen die Masern impfen, bis zum Einschulungsalter sind es bei der ersten Masernimpfung inzwischen deutlich über 95 %. Aufklärung und niedrigschwellige Impfangebote sind also alles andere als wirkungslos. Impflücken gibt es nach wie vor bei kleinen Kindern, jungen Erwachsenen und manchen Flüchtlingen.
Gerade wird nebenan bei blooDNAcid wieder eine Impfpflicht-Debatte mit Blick auf aktuelle Masernausbrüche geführt. Allerdings drängt sich dabei bei mir der Gedanke auf, dass auch Impfbefürworter manchmal in der Hitze des Gefechts auf den Holzweg kommen und in einer Weise argumentieren, die, vorsichtig formuliert, die menschliche Fähigkeit, vernünftig zu argumentieren, auch nicht ganz ausschöpft.
Da finden sich dezisionistische Basta-Forderungen ohne irgendwelche Begründungen: „Was soll nur der Eiertanz um die Impf-Pflicht? Die gehört eingeführt, fertig.“ Gegen welche Krankheit, für welche Altersgruppen, mit welchen Durchsetzungsinstrumenten – das alles bleibt offen und wird auch auf Nachfrage nicht beantwortet. Andere wollen Nichtgeimpfte, die erkranken, die Behandlungskosten selbst tragen lassen, auch wenn sie „in einem solchen Fall einige Jahre ihres Lebens auf Harz4-Niveau bestreiten müssen“. Der Hinweis, dass das im Falle des Nichtimpfens von Kindern diese doppelt trifft, wenn sie dann auch noch in einer verarmten Familie aufwachsen müssen, wird beiseite gewischt: „Oh, wirklich? Ganz im Gegensatz zu einer Maserninfektion, die fördert das Kindeswohl natürlich ungemein. Besonders das der fremdinfizierten. Entschuldigung für den Zynismus, aber ein Gefängnisaufenthalt wegen Bankraub und Vergewaltigung hat im Allgemeinen auch gewisse Auswirkungen auf den Lebensweg der Nachkommen“. Wie weit sind solche Einstellungen eigentlich noch weg von Äußerungen aus dem Impfgegnermilieu, wenn mal ein Kind an den Masern sterbe, sei das eben der Lauf der Natur? Und wenn man schon einmal dabei ist, jede zivilisatorische Rücksichtnahme fahren zu lassen, es geht ja gegen „asoziale Trittbrettfahrer“: „Zudem wäre zu überlegen, ob die Impfverweigerung im Personalausweis vermerkt werden sollte“. Bei solchen Ideen gewinnt der Begriff „Gesundheitsdiktatur“, den die Tabaklobby so gerne gegen den Nichtraucherschutz in Stellung bringt, plötzlich eine ganz sinnvolle Bedeutung.
Am interessantesten fand ich aber einen anderen Gedanken, zu dem ich daher hier etwas mehr sagen will, nämlich einen Vergleich: „Im 14. Jahrhundert, als in Europa die Pest wütete, wären die Leute in Scharen zum Arzt gerannt, wenn es eine Impfung gegeben hätte.“ Ob der Kommentator bedacht hat, dass die Masern heute nicht mit der Pest damals zu vergleichen sind und sein Vergleich daher seine Argumentation eher unterminiert, sei einmal dahingestellt. Wie die Akzeptanz einer Impfung bei einer großen Pestepidemie wäre, weiß ich nicht. Die Pest hat unbehandelt eine hohe Letalität, bei der Beulenpest geht man 50-80 % aus. Da wäre sicher jeder gut beraten, sich impfen zu lassen, gäbe es eine Impfung. Aber würde sich jeder impfen lassen?
Es gibt einen historischen Vergleichsfall, der in dieser Hinsicht vielleicht lehrreich ist: die oben schon erwähnte Pockenimpfung. Sie hat eine lange Geschichte, die weit vor Edward Jenner zurückreicht. Die Pocken gehören zu den großen Killern unter den Seuchen und hatten noch Anfang des 20. Jahrhunderts eine Letalität von 10-20%. Nicht ganz so tödlich wie die Pest also, aber doch um Größenklassen tödlicher als die Masern. Deswegen gab es, als eine bewährte Impfung zur Verfügung stand, historisch früh eine Impfpflicht: in Bayern schon 1807, im gesamten Deutschen Reich dann 1874 und weltweit 1967. 1980 waren die Pocken ausgerottet. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte des Impfens.
Kurz vor Einführung der reichsweiten Pockenimpfpflicht, 1870 und 1873, gab es in Deutschland den letzten großen Ausbruch mit über 400.000 Erkrankten und 180.000 Toten (Meyer/Reiter 2004). Aber auch gegen die Pockenimpfung gab es trotz dieser unmittelbar erfahrenen Todesgefahr massive Widerstände mit teilweise ganz ähnlichen „Argumenten“, wie sie Impfgegner heute gegenüber der Masernimpfung vorbringen. Einen kurzen Beitrag dazu gibt es übrigens auch bei den Psiramitätern.
Geimpft werden mussten Kinder im Alter von einem Jahr und dann noch einmal im Alter von 12 Jahren. Leider habe ich nur selektiv Daten zur Pockenimpfrate, dazu müsste man in die Bibliothekskeller mit staubigen alten Büchern steigen. Aber für den Zweck des Blogbeitrags ist das vielleicht gar nicht nötig. Die Impfraten für die Pockenerstimpfung lagen in Bayern 100 Jahre nach Einführung der bayerischen Impfpflicht und kurz nach der Einführung der reichsweiten Impfpflicht bei ca. 90 %. Das war bei den Pocken für die Herdenimmunität ausreichend. Aber die Masernimpfraten im Einschulungsalter liegen inzwischen im Einschulungsalter ohne Impfpflicht höher und auch bei den Unter-2-Jährigen, also im Alter, für das die STIKO die Impfung empfiehlt, nehmen die Impfraten deutlich zu.
Ich glaube, wenn wir uns weiter so intensiv um die Masernimpfung kümmern wie in den letzten Jahren, das eine oder andere Versäumnis noch ausräumen, werden wir die Masern in Deutschland auch ohne Impfpflicht eliminieren. Falls das nicht gelingt, müsste man wohl bei einer Impfpflicht eher an die Erwachsenen denken als an die Kinder. Aber wie man hier eine Impfpflicht durchsetzen will, ist mir schleierhaft. Man diskutiert eine Impfpflicht auch deswegen so gerne für Kinder, weil man da mit dem Kitabesuch und dem Schuleintritt immerhin praktikable Kontrollmöglichkeiten hat. Aber wie setzt man eine Impfpflicht wohl gegenüber einem 30-Jährigen durch? Und wenn gegen Masern, warum nicht erst recht gegen Grippe, die bringt schließlich viel mehr Menschen um, und warum den Zwang zu Gesundheit und solidarischem Miteinander auf das Impfen beschränken und nicht mit dem Rauchen, Trinken, Dieselfahren und anderem weitermachen? Aber gut, das hatten wir schon und ich wollte mich ja nicht wiederholen, sondern nur eine Lanze für das Abwägen brechen, statt mit schlecht begründeten Impfpflichtforderungen aus der Hüfte zu schießen.
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