Derzeit tobt ein heftiger Kampf zwischen Gesundheitsminister Spahn und den Psychotherapeuten. Unstrittig ist, dass Patienten lange auf einen Therapieplatz warten müssen: Im Schnitt 20 Wochen auf eine Richtlinienpsychotherapie, 6 Wochen auf eine Sprechstunde, 3 Wochen auf eine Akutbehandlung bei dringendem Handlungsbedarf, so die Wartezeitenstudie 2018 der Bundespsychotherapeutenkammer. Die Fallzahlen bei den psychischen Störungen steigen, die Therapeutenzahlen auch, aber sie halten nicht mit. Was also tun? Kurz vor Weihnachten war das Thema eines längeren Beitrags hier auf Gesundheits-Check.
In der Wochend-Ausgabe der Süddeutschen hat nun Christina Berndt, Medizinredakteurin der SZ, einen ganzseitigen Beitrag dazu geschrieben. Titel in der Printversion: „Traurige Erkenntnis“. Publikationsort: Der Gesellschaftsteil.
Christina Berndt versucht zwar, den Spagat zwischen ungedecktem Behandlungsbedarf einerseits und übertriebenen Sorgen andererseits, dass eine Verstimmung oder Schlaflosigkeit schon Anzeichen einer psychischen Erkrankung sind, zur Sprache zu bringen, aber dieser Versuch ging schief.
Niemand bestreitet, dass nicht jede Befindlichkeitsstörung Krankheitswert hat und es muss auch nicht jede nach gängigen Diagnosekriterien festgestellte Erkrankung psychotherapeutisch behandelt werden, schon gar nicht sofort. Nur, was bedeutet das für Menschen in seelischen Nöten und was bedeutet das für die Weiterentwicklung des Versorgungssystems?
In ihrem Artikel plädiert Christina Berndt dafür, nicht alles ganz so ernst zu nehmen. Sie beruft sich dabei im Wesentlichen auf Christian Dogs, „pensionierter Chefarzt einer Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Allgäu“. Ihn zitiert sie wie folgt:
„Die Praxen sind vollgestopft mit Menschen, die da nicht hingehören. 40 Prozent von denen sind nicht krank.“
Eine ziemlich harte Aussage. Die Datenlage gibt das nicht her. Etwas pikant mutet in dem Zusammenhang zudem an, dass psychosomatische Fachkliniken im Wesentlichen elektive Leistungen erbringen und keine Akutversorgung übernehmen. Das machen die psychiatrischen Kliniken, die niedergelassenen Psychiater und eben die Psychotherapeuten, ärztliche wie nichtärztliche. Diesen attestiert Herr Dogs nun, dass sie zur Hälfte Luxusprobleme verwöhnter oder überbesorgter Leute behandeln. Ob er weiß, dass bei Psychotherapien, die länger als 24 Stunden umfassen, eine Begutachtung erforderlich ist?
Der Artikel geht in diesem Stil weiter. Christina Berndt spricht vom „Hypochonder des 21. Jahrhunderts“, der „alarmiert seine Gemütsverfassung“ betrachtet. Ja, das gibt es. Aber machen diese Leute wirklich die langen Wartezeiten? Wäre die versorgungspolitische Richtschnur demnach wirklich, dass es auch ein Bier tut, wie vor geraumer Zeit der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Herr Hecken, unbedacht formulierte? Klar reicht manchmal ein Bier, wenn man Sorgen hat, sofern es nicht zur Gewohnheit wird, seine Sorgen auf diese Weise zu behandeln und solange es nur normale Alltagssorgen sind. Mit einer Depression sollte man so nicht umgehen.
Zu Recht spricht Christina Berndt die unnötig weite und vielfach kritisierte Definition der Depression nach dem neuen amerikanischen Diagnosemanual DSM V an, aber im deutschen Abrechnungssystem gelten noch die Kriterien des ICD 10. Wie viele Fälle der in Deutschland behandelten Depressionen sind denn normale Trauerreaktionen? Darüber schreibt sie nichts. Statt dessen ein geradezu aggressiver Vorwurf:
„Aber wenn Depressionen und Burnout zum Showbusiness gehören, wenn man sich mit ihnen schmücken kann wie mit einer Gucci-Handtasche, dann geht das in die falsche Richtung“.
Das ist nichts anderes als Patientenbeschimpfung und ein Schlag ins Gesicht aller depressiv Erkrankter. Den Spruch, „stell dich nicht so an“, haben sich viele von ihnen viel zu lange anhören müssen, und so mancher hat deswegen gar nicht erst Hilfe gesucht, oder sehr spät. Dass sich das ändert, darum kämpfen z.B. die „Bündnisse gegen Depression“ seit Jahren.
Besagter Herr Dogs sieht das undramatisch:
„Rennen Sie nicht sofort zum Therapeuten, da bekommen Sie im Zweifel nur eingeredet, Ihre Befindlichkeitsstörungen seien eine Krankheit. Im schlimmsten Fall schreiben die Sie krank.“
Wie viele, die nachts mal mit Sorgen aufgewacht sind, rennen denn sofort zum Therapeuten? Wie groß ist ihr Anteil? Das sagt Herr Dogs nicht. Wer wegen psychischer Probleme Hilfe sucht und etliche Therapeuten abtelefoniert, bis man ihm wenigstens eine Sprechstunde anbietet, um ihm dann zu sagen, er könne in einem viertel Jahr einen Therapieplatz haben, der wird eher nicht zu denen gehören, die ihre Probleme wie ein Gucci-Täschchen vor sich her tragen und ihre Alltagslangeweile dann in der Therapie erzählen. Und die sollen ja 40 % der Patienten in den Praxen ausmachen, wie Herr Dogs meint.
Am Ende hat Christina Berndt noch einen wohlfeilen Ratschlag parat, mit dem all die, die wirklich Hilfe brauchen, sich schwarz auf weiß in der Zeitung nachlesbar alleingelassen fühlen dürfen:
„Kleinere Krisen sind nicht schlimm, sie stärken einen für die nächste Herausforderung im Leben.“
Stell dich nicht so an. Wird schon. Oder bei Kindern: Das wächst sich aus. Und wenn nicht und wir doch einen Therapeuten brauchen? Ja dann „gehen wir natürlich hin“. So einfach kann die Welt sein.
Kommentare (57)