Offene Fragen, Kritik und Desinformation
Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg, Arzt und Vorstandsmitglied von Transparency Deutschland, hat sich in Sachen Corona mehrfach beschwichtigend geäußert und zu Recht viel Kritik für seine Äußerungen einstecken müssen, auch nebenan auf den Scienceblogs bei „Meertext“. Zu behaupten, die Virologen hätten die Tests nur aus finanziellen Gründen entwickelt oder der Staat nutze die Geschichte, um Überwachungsinteressen durchzusetzen, ist billige Demagogie, zu behaupten, die Tests seien gar nicht validiert, ist sachlich falsch und zu behaupten, das neue Virus sei ein ganz normaler Vertreter der Corona-Familie, ist bestenfalls die halbe Wahrheit.
Aber vielleicht sollte man mit dem, was er sagt, doch etwas differenzierter umgehen. Seine Grundfrage, ob wir angemessen auf die Epidemie reagieren, ist ja durchaus berechtigt, schließlich versetzen wir die halbe Wirtschaft ins künstliche Koma, um der Krise Herr zu werden, mit Maßnahmen, die nicht alle so evidenzbasiert sind, wie manche meinen. Die Wirksamkeit einer allgemeinen Ausgangssperre von der einer selektiven Ausgangsbeschränkung abzugrenzen, dürfte beispielsweise schwer fallen. Und natürlich gibt es rund um das neue Virus und seine Verbreitung noch viele offene Fragen. Damit muss die Politik umgehen und stellenweise handelt sie unvermeidlich unter Unsicherheit – und lernt wie die sie beratenden Fachleute mit jedem Tag dazu. Wenn alles unklar wäre, wären die harten Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie sicher fragwürdig, aber wenn nur einzelne Punkte unklar sind, sieht es anders aus, dann sollte man mit diesen Punkten nicht die Schutzmaßnahmen an sich infrage stellen und die Bevölkerung, auf deren Mitwirkung die Politik hier essentiell angewiesen ist, nicht verunsichern. Das schließt kritische Anmerkungen nicht aus, mit beifallklatschendem Konformismus ist niemand gedient, aber kritische Einwände sollten derzeit besonders gut überlegt sein.
Das Problem bei Wodargs Äußerungen ist die Vermischung von haltlosen Unterstellungen und überlegenswerten Argumenten. Wenn man sich die schwächsten Punkte Wodargs sucht, um ihn abzuwatschen, schafft das weder Vertrauen bei denen, die sich fragen, ob er nicht vielleicht mit seiner Grundfrage doch Recht hat, noch lernt man selbst etwas dabei. Ich finde beispielsweise den Hinweis, dass durch das Testen Fälle sichtbar werden, die sonst unter dem diagnostischen Radarschirm geblieben wären, durchaus berechtigt und hilfreich für die Bewertung der Datenlage. Zum Vergleich: Würde in einer Influenzasaison wie 2017/2018 mit vielen Toten frühzeitig mehr auf Influenza getestet, würde man auch da viel mehr laborbestätigte Fälle und Sterbefälle dokumentieren, mit einem exponentiellen Anstieg – der dann im gewohnten saisonalen Verlauf in eine logistische Kurve mündet, also abflacht. Der Verlauf der Fallzahlen bei der Influenza wird durch die Meldepflicht kontrolliert, aber die gemeldeten Fälle reichen um Größenordnungen nicht an die wahren Fallzahlen heran, die man nur abschätzen kann. Gleiches gilt für die Sterbefälle. Sie liegen um ein Vielfaches höher als die gemeldeten Influenza-Sterbefälle und werden erst ex post vom Robert Koch-Institut durch die Berechnung der Exzessmortalität im Vergleich mit “normalen” Jahren ermittelt.
Es gibt also auch bei der saisonalen Influenza eine große Dunkelziffer, aus der durch mehr Tests mehr labordiagnostizierte Fälle zu gewinnen wären. In gleicher Weise spiegeln die Corona-Zahlen ein Konglomerat aus Infektionsgeschehen und Testaktivität wider, da hat Wodarg einen richtigen Punkt angesprochen. Aber Wodarg übergeht dann umstandslos, dass die fehlende Immunität in der Bevölkerung, die fehlende Impfung sowie die mutmaßlich auch fehlende saisonale Limitierung dem neuen Coronavirus eine ganz andere Durchseuchungsdynamik ermöglichen wie einem saisonalen Influenzavirus. Die Befürchtung, dass ein ganz neues Virus durch eine nicht immune Bevölkerung rasen könnte, gab es übrigens – ex ante zu Recht – auch bei der Schweinegrippe. Im Nachhinein war die Schweinegrippe dann nicht so schlimm, aber im Nachhinein sind wir immer alle schlauer. Dass einer der außerhalb des normalen Procederes zugelassenen Impfstoffe Nebenwirkungen hatte, auf die man früher hätte reagieren können, ist eine andere Geschichte.
Modelle und Menetekel
Wenn wir nicht erst im Nachhinein, sondern schon während der Epidemie schlauer sein wollen, brauchen wir gute zeitnahe Daten. Die haben wir zwar auch diesmal nicht in wünschenswerter Menge und Differenzierung, aber das Infektionsgeschehen ist doch viel besser zu bewerten als bei der Schweinegrippe. Es gibt inzwischen eine Vielzahl an Modellierungen zum Verlauf der Corona-Krise. Sie hängen natürlich davon ab, welche Ausgangsdaten eingehen und welches Modellierungsverfahren man verwendet. Aber in einem zentralen Ergebnis sind sie sich alle einig: Wenn man der Epidemie nichts entgegensetzt, werden die schweren Krankheitsverläufe das Gesundheitswesen überfordern.
Gestern hat die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie eine Modellierung für Deutschland veröffentlicht. Sie umfasst gerade einmal vier Seiten und ist auch für Laien verständlich. Man wird mit keiner Formel gequält. Ich will daraus zwei Bilder wiedergeben.* Das eine zeigt den intensivmedizinischen Behandlungsbedarf in Abhängigkeit davon, mit welcher Basisreproduktionszahl Ro wir starten. Die Basisreproduktionszahl gibt an, wie viele andere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Sie liegt beim Sars-Cov-2 irgendwo zwischen 2 und 3 und dürfte in Deutschland aufgrund der seit geraumer Zeit ergriffenen Gegenmaßnahmen darunter liegen. Wo genau, weiß man nicht. Das andere Bild zeigt den intensivmedizinischen Behandlungsbedarf beim Start mit Ro 2 und einer Absenkung auf 0,9 in Abhängigkeit vom Beginn der Absenkungsmaßnahmen. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu sehen, dass bei Untätigkeit oder zu späten Gegenmaßnahmen auch die im internationalen Vergleich vielen Intensivbetten in Deutschland nicht ausreichen würden. Mit anderen Worten: Solche Daten zeigen unmissverständlich, dass Handlungsbedarf mit einschneidenden Maßnahmen besteht, wenn die Kapazitätsgrenzen des Gesundheitswesens nicht gesprengt werden sollen und Ärzte nicht vor die Entscheidung gestellt werden sollen, wen sie retten und wen sie sterben lassen.
Die modellierte Falldynamik wie auch die Entwicklung in den Kliniken sprechen schon jetzt dagegen, dass diese Epidemie “statistisch unauffällig” verläuft, vergleichbar einem normalen Influenzajahr. Zudem klingt die Influenza langsam ab. Die Gegenläufigkeit der Coronafälle und der Influenzafälle spricht, abgesehen von den medizinischen Befunden, ebenfalls dagegen, dass die registrierten Sterbefälle zu großen Teilen vielleicht nur mit und nicht durch das neue Coronavirus gestorben sind, ein anderes Argument von Wodarg, das an sich erst einmal nicht unvernünftig ist.
Die Kurven zeigen aber noch etwas anderes. Wenn man auf die X-Achse schaut, dann werden die langen Zeiträume sichtbar, die für Flatten-the-curve-Strategien in Rechnung zu stellen sind. Man kann nicht ein Jahr lang die Schulen schließen und die Wirtschaft lahmlegen. Die Politik könnte somit in ein Dilemma zwischen Gesundheits- und Wirtschaftsdesaster geraten. Es wäre daher gut, man käme wieder in eine Situation, in der man die Infektionsketten vollständig aufklären und infizierte Fälle schnell isolieren könnte. Oder man findet andere Wege, die Kurve flach zu halten, die die Wirtschaft und die Gesellschaft nicht strangulieren.
Ergo:
Auch wenn man Wodargs “starke” Argumente ernst nimmt, kommt man zu dem Ergebnis, dass sein Fazit, alles halb so wild, kein guter Rat ist. Sollte er am Ende doch Recht behalten und die Epidemie bricht aus bisher nicht absehbaren Gründen von alleine in sich zusammen, dann werden Scharen von Wissenschaftlern davon leben, herauszufinden, warum. An den Gründen, die Wodarg nennt, war es jedenfalls nicht gelegen.
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* Nachtrag 21.3.2020: Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie hat inzwischen ihre Stellungnahme durch eine Fassung mit differenzierteren Grafiken ersetzt, bei denen jeweils spezifische Modellparameter ausgewiesen sind. Die beiden hier gezeigten Grafiken sind jetzt einer Variante mit 6 % intensivpflichtigen Patienten zugeordnet. In der ersten Fassung der Stellungnahme war nur pauschal von 2 % die Rede.
Nachtrag zum Nachtrag: Die DGEpi weist jetzt darauf hin, dass die Versionen ausgetauscht wurden. Ganz ideal lief das nicht, und etwas mehr Erläuterung wäre gut gewesen, aber immerhin.
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