Angesichts der Diskussionen um verfehlte Vergleiche von Corona und Influenza, um Wodargs Grafiken oder das Verschwinden von Effekten in Durchschnitten geht mir gerade wieder das Thema „Fehler“ durch den Kopf. Natürlich sind nicht alle falschen Aussagen einfache Fehler, aber ab und zu sollte man schon Hanlon’s Law zu seinem Recht kommen lassen. Zumindest nehme ich es gerne für mich in Anspruch. Wie ich hier auf Gesundheits-Check schon mal schrieb, habe ich, bedingt durch mein Alter, große Fehlererfahrung und so ziemlich alle Arten von Fehlern schon mal ausprobiert.
Das ist aber kein besonderes Privileg und geht anderen auch so. Beispielsweise war in der ersten Auflage des wirklich ganz tollen Buchs „Der Hund, der Eier legt“ von Hans-Peter Beck-Bornholdt und Hans-Hermann Dubben, zwei absoluten Statistikfachleuten, eine fehlerhafte Formulierung zu 0 Fakultät. Das habe ich ihnen geschrieben, damit es in einer zweiten Auflage korrigiert werden kann und das hat mir in der zweiten Auflage in einer Dankesliste für Hinweise sogar eine namentliche Erwähnung eingebracht. Natürlich wussten die beiden ganz genau, was es mit 0 Fakultät auf sich hat, aber sie haben die – wer weiß wie im Manuskript emergierte – falsche Formulierung vor dem Druck vermutlich mehrfach überlesen.
Dieses Überlesen ist eine Alltagskompetenz, die man im Umgang mit Druckfahnen im Laufe des Lebens erwirbt. Man sieht immer weniger. Walter Krämer, ein vermutlich hier den meisten bekannter Statistiker, mit dessen gesellschaftspolitischen Ansichten ich zwar oft nicht übereinstimme, aber dessen Talent ich bewundere, Statistik lesbar an den Mann und die Frau zu bringen, hatte in einem Buch einmal die Wahrscheinlichkeit für 6 Richtige im Lotto falsch angegeben. Diese Wahrscheinlichkeit ist eines der Lehrbeispiele in jeder Statistik-Einführung und Walter Krämer hat das seinen Studierenden sicher hunderte Male vorgerechnet – und dann steht es doch falsch in seinem Buch und auch seinen Mitautoren ist es nicht aufgefallen. Der eigentliche Witz kommt aber noch: Ich hatte es ihm geschrieben – und in meiner Mail prompt auch falsch beziffert. Man fasst es nicht, was da manchmal für ein Teufelchen am Werk ist. Walter Krämer hat sich nett bedankt, ohne meine falsche Zahl zu erwähnen. Ob er lachen musste oder, weil er sich fragte, wie er zu seiner falschen Bezifferung kam, meine gar nicht wahrgenommen hat, wird immer unbekannt bleiben.
Die Spitze meiner Fehleranekdoten ist aber die Verwandlung von zwei richtigen Formeln in zwei falsche in einem Lehrbuch der Infektionsepidemiologie. Dort hatte ich mit einer Kollegin einen Artikel über epidemiologische Basics. Dafür haben wir einen schon vorhandenen Text recycled, in dem die Formeln noch ganz korrekt standen. Im Verlauf der Manuskriptbearbeitung wurden sie aber kunstvoll verhunzt, unter anderem, indem Bruchstriche und Schrägstriche ihr Dasein tauschten und ein Auslassungszeichen in der Korrekturfahne zum Wurzelzeichen im gedruckten Werk wurde. Bei der letzten Druckfahne ist das allen, die korrekturgelesen haben, durchgerutscht. Zum Piepen, und wenn man es frisch gedruckt sieht, zum Wahnsinnigwerden. Bei mir hatte sich in den Jahren danach übrigens nie jemand gemeldet und stolz mitgeteilt, dass zwei Formeln falsch sind. Vielleicht waren sie zu offenkundig falsch, aber manchmal frage ich mich, ob es wohl studentische Abschlussarbeiten gibt, in denen mit den Formeln bahnbrechend überraschende, aber leider falsche Ergebnisse berechnet wurden. Mea culpa.
Mich haben solche Vorgänge dazu gebracht, ein Fehlerrelativitätsgesetz zu postulieren: In jedem längeren Text, egal wie viele Fehler man findet, bleiben immer mindestens 5 weitere Fehler. Wenn man Glück hat, nur einfache Schreibfehler, wenn man Pech hat, werden auch höhere intellektuelle Ansprüche erfüllt. Interpretiert man das Fehlerrelativitätsgesetz nicht metaphysisch, sondern psychologisch, so hat es mit Unaufmerksamkeitsblindheit bzw. Veränderungsblindheit zu tun, also damit, dass man in bestimmten Situationen selbst Gorillas übersieht, die durchs Bild laufen. Die praktische Konsequenz in meinem hauptberuflichen Feld war die Einführung einer Fehlerkasse: Für wirklich dämliche Fehler, die man hätte sehen können, die Gorillas, werden 2 Euro fällig. Das entlastet seelisch wie die katholische Beichte und ergibt nach einiger Zeit eine Summe, die für den Biergartenbesuch aller redlich bemühten und am Fehlerrelativitätsgesetz gescheiterten Kolleg/innen reicht. Und in unserem Büchlein „Gesundheitsdaten verstehen“ haben wir der Unausweichlichkeit des Fehlers und der Emergenz von Fehlern in Manuskripten, in denen sie nie drin waren, durch einen Eintrag im Glossar zum Stichwort Fehlerfortpflanzung Rechnung getragen. Ich bin zwar noch nicht so weit, dass ich mit Friedrich Nietzsche die ewige Wiederkehr meiner Fehler auch noch will, aber immerhin kann ich sie immer öfter mit Lichtenberg hinnehmen, als Teil dessen, was sich in unserem irdischen Leben nicht ändern lässt. Das Fehlerrelativitätsgesetz hat ganz bestimmt der liebe Gott gemacht, um uns etwas Demut beizubringen, nicht der Teufel.
Kommentare (38)