Vorbemerkung: Es gibt im Moment viel Streit rund um die Inzidenzwerte. Heute wurden mit dem neuen Infektionsschutzgesetz beispielsweise drei Schwellenwerte beschlossen: Ab einer Inzidenz von 100 je 100.000 Einwohner/innen gibt es eine Ausgangssperre von 22.00 bis 5.00 Uhr, wobei man bis 24.00 einzeln spazieren gehen darf (Frauen, vergesst das Pfefferspray nicht), ab einer Inzidenz von 150 ist der Einzelhandel zu und ab einer Inzidenz von 165 soll es keinen Präsenzunterricht geben. Ich persönlich halte ja Inzidenzgrenzen von 105, 148 und 167 für besser, gebe aber zu, dass es auch dafür es keine Evidenz gibt.
Manche Leute halten die Inzidenz insgesamt für irreführend. Wo mehr getestet wird, würden auch mehr Fälle gefunden, heißt es oft. Das stimmt natürlich, macht aber die Inzidenz nicht wertlos, schon gar nicht im Zusammenspiel mit anderen Kennziffern, wie sie inzwischen zu jeder Lagebeurteilung gehören. Aber man kann die täglich berichteten Inzidenzwerte auch aus einer ganz anderen, bislang wenig beachteten Perspektive kritisieren – mit interessanten Konsequenzen. Das tun in einem Gastbeitrag Prof. Bernt-Peter Robra, der hier im Blog schon mehrfach mit Gastbeiträgen vertreten war, und Dr. Maren Dreier von der MHH Hannover, dort im Forschungsschwerpunkt „Prävention und Versorgung spezifischer Zielgruppen“ tätig.
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Schwund der Suszeptiblen – sollten wir die abnehmende Population unter Risiko bei Berechnung der Inzidenz berücksichtigen?
Bernt-Peter Robra, Maren Dreier
Inzidenzen sind Verhältniszahlen. Ihr Zähler enthält die erfasste Zahl der Neuerkrankten, ihr Nenner die zugehörige Population unter Risiko. Letzteres sind die Menschen, die (noch) erkranken können. Dies sind nicht notwendig alle Menschen. Für Krebs der Gebärmutter gilt z.B.: Nur wenn Frauen, deren Gebärmutter schon entfernt wurde, aus der Bevölkerung unter Risiko herausgenommen werden, lässt sich die Inzidenz des Endometriumkarzinoms als Erkrankungsrisiko interpretieren. Dadurch ergeben sich bei diesem Krebs korrigierte Schätzungen des Risikos nach Alter oder anderen Risikofaktoren.
Für Infektionskrankheiten gilt entsprechend, dass dauerhaft gegen diese Krankheit Immune ebenfalls nicht mehr unter Risiko stehen, an dieser Krankheit zu erkranken. Bezogen auf die 7-Tage-Inzidenz müsste daher auch bei der laufenden SARS-CoV-2-Epidemie die Population unter Risiko entsprechend angepasst werden. Personen, die nicht mehr erkranken können, also Genesene und Geimpfte, müssten im Nenner der Inzidenzrate abgezogen werden. Ohne diese Korrektur würde die mitgeteilte Inzidenz das tatsächliche Infektionsrisiko für die verbleibenden Suszeptiblen unterschätzen.
Die Abbildung zeigt den dynamischen Korrektureffekt mit den unten gemachten Annahmen.
Annahmen der „Basiskorrektur“: Vom RKI ausgewiesene Genesene verfügen (derzeit) über volle Immunität und die Erstimpfung führt nach 2 Wochen zu einer Immunität bei 50 %, die Zweitimpfung bei 100 % der Geimpften (die laufende Zahl der Zweitgeimpften reduziert natürlich die laufende Zahl der Erstgeimpften).
Mit diesen einfachen Annahmen würde die RKI-Inzidenz am 22.04.2021 um 16 % steigen (Faktor 1,16). Mit modifizierten Annahmen ergeben sich andere Steigerungen. Wäre z.B. die ausgewiesene Zahl der Genesenen um den Faktor 2 unterschätzt (Dunkelziffer der RKI-Meldungen), nimmt die Korrektur entsprechend zu (am Stichtag mit Faktor 1,21). Und schützt die Erstimpfung besser als 50 % (80%), ist der Korrekturfaktor 1,25. Diese Korrekturen müssen noch detailliert begründet und auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Dynamik geprüft werden (irgendwann dürfte der erworbene Schutz abnehmen). Die Wahrscheinlichkeit, COVID-19-Intensivpatient oder -patientin zu werden, würde analog zunehmen.
Komplexe Kompartment-Modelle (SEIR-Modelle) berücksichtigen bei ihren Prognosen diese Problematik. Für den Bürger bedeutet der Schwund der Suszeptiblen bis auf weiteres, dass die täglich berichteten Inzidenzen sein Infektionsrisiko unterschätzen. Und für die Politik lautet das Signal: Eine konstant ausgewiesene Inzidenz von 100 bedeutet heute ein Risiko von 116 – und jeden Tag mehr.
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